STRACK-ZIMMERMANN-Interview: Ohne Sicherheit ist alles nichts.

Das FDP-Präsidiumsmitglied und die Spitzenkandidatin zur Europawahl Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann gab „Stern.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Benedikt Becker:

Frage: Donald Trump hat angekündigt, im Falle seiner Wiederwahl als US-Präsident nicht bedingungslos alle Nato-Staaten gegen einen russischen Angriff zu verteidigen. Müssen sich die Europäer darauf einstellen, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg allein für ihre Sicherheit zu sorgen?

Strack-Zimmermann: Trumps Äußerungen sind ungeheuerlich und beängstigend. Er untergräbt die Sicherheit des gesamten Westens. Aber unabhängig davon, wer die US-Wahl gewinnt, wird es dringend Zeit, dass Europa sich darauf vorbereitet, sich selbst verteidigen zu können und in der Nato eine größere Rolle zu spielen. Europa muss jetzt erwachsen werden, auch wenn das noch nicht alle begriffen haben. Aber es ist ja unübersehbar, was vor unserer Haustür los ist.

Frage: Was bedeutet das konkret?

Strack-Zimmermann: Nehmen Sie die Unterstützung für die Ukraine. Wir haben uns bei der Frage, was wir liefern, immer an den USA orientiert. Keiner kommt bislang auf die Idee, dass wir den Amerikanern mal was vorschlagen: Wir liefern dieses und jenes, macht ihr mit? Wir haben uns immer hintangestellt, um uns bloß nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen und Führung zu übernehmen. Das erwarten aber durchaus auch die europäischen Partner von Deutschland.

Frage: Wird es nur vorangehen, wenn wir uns mehr als andere engagieren?

Strack-Zimmermann: Wenn wir als starke Volkswirtschaft im Herzen Europas bereit sind, uns über das Bisherige hinaus noch stärker zu engagieren, kann man auch von den anderen mehr einfordern. Unsere Erwartung sollte sein, dass alle der eigenen Kraft entsprechend liefern. Wir können als Vorbild vorangehen.

Frage: Viele europäische Länder, gerade im Westen und Süden, haben erkennbar keine Lust mehr, der Ukraine zu helfen. Reicht auch eine kleinere Koalition der Willigen?

Strack-Zimmermann: Ich sehe nicht, dass es Länder gibt, die komplett aussteigen. Aber offensichtlich ist die EU nicht wirklich willens, eine gemeinsame, konsequente Außenpolitik zu gestalten. Wir müssen erkennen, dass Konflikte rund um Europa uns alle betreffen, weil es um unsere Freiheit als gesamte Union geht. Es ist doch ein Trugschluss zu glauben, dass einen der Konflikt des anderen nichts angeht, nur weil man geografisch nicht unmittelbar davon berührt zu sein scheint.

Frage: Hatte Donald Trump recht? Wir Europäer haben tatsächlich lange nicht angemessen für unsere Sicherheit bezahlt.

Strack-Zimmermann: Europa hatte in der Tat keine in sich konsequente Haltung. Man kann nicht gleichzeitig billiges Gas aus Russland kaufen, den Erwartungen der Nato nicht nachkommen und die Amerikaner bitten, uns vor diesem Russland zu schützen. Dass die USA verstärkt Richtung Indopazifik schauen und erwarten, dass wir uns um die Krisenherde auf unserer Seite des Atlantiks kümmern, darauf hat schon Obama hingewiesen.

Frage: Letztlich werden die Anstrengungen, um der russischen Aggression zu begegnen, uns alle Wohlstand kosten. Wir werden ärmer werden. Trauen Sie sich, das den Leuten im Europawahlkampf zu sagen?

Strack-Zimmermann: Ich sehe nicht, dass wir substanziell ärmer werden. Wir müssen schlicht andere Prioritäten setzen. Ohne Sicherheit ist alles nichts. Wenn wir im Haus Europa Türen und Fenster deutlich besser sichern, auch um einen unbequemen Nachbarn abwehren zu können, dann schützt das unseren Wohlstand, den wir uns in diesem Haus geschaffen haben. Der basiert auf Sicherheit.

Frage: Was antworten Sie, wenn die Wähler sagen: Helfen Sie doch erst einmal uns, bevor Sie den Ukrainern helfen?

Strack-Zimmermann: Es soll ja Leute geben, die sich nicht blöd vorkommen, wenn sie ein T-Shirt tragen, auf dem steht: „Was geht mich die Ukraine an?“ Denen erkläre ich gern zum Mitschreiben, dass Wladimir Putin nicht zögern wird, auch das Baltikum anzugreifen, wenn er in der Ukraine Erfolg haben sollte. Dann greift der Bündnisfall auf der Grundlage des Nordatlantikvertrags, und auch unsere Soldaten müssten das Territorium verteidigen. Das sollte man aufs T-Shirt drucken.

Frage: Was würde es für die Ukraine-Politik bedeuten, wenn bei der Europawahl die Rechtspopulisten in vielen Ländern dramatisch dazugewinnen?

Strack-Zimmermann: Wir sollten das Übel nicht herbeireden. Auch ich mache Wahlkampf, um genau das zu verhindern. Wie gut, dass die Bürger auf die Straße gehen, um gegen die AfD zu demonstrieren. Wir müssen deutlich machen, dass sich Rechtspopulisten ausschließlich zur Wahl stellen, um das Parlament von innen heraus kaputt zu machen. Ich hole ja auch keinen Gast ins Haus, von dem ich weiß, dass er meine Bude anzünden will.

Frage: Ein Hauptproblem der Ukraine ist der Mangel an Artilleriemunition. Wie kann es sein, dass die Europäer es nicht schaffen, ihre Lieferversprechen zu erfüllen?

Strack-Zimmermann: Da wurde laut zugesagt, der Ukraine binnen eines Jahres eine Million dringend benötigter Geschosse zu liefern. Man sollte erst gackern, wenn das Ei gelegt ist. Offensichtlich hat Brüssel völlig übersehen, dass die Industrie über Jahrzehnte ihre Kapazitäten runtergefahren hat, weil in Europa keiner ausreichend Munition gekauft hat. Erstaunlich.

Frage: Warum?

Strack-Zimmermann: Ursula von der Leyen war sechs Jahre Verteidigungsministerin, bevor sie EU-Kommissionspräsidentin wurde. Sie hätte wissen können, dass man sich Munition nicht aus den Rippen schneidet. Für die Ukraine ist das tragisch, und es bleibt hängen: Die EU wollte, aber kriegt es nicht auf die Kette.

Frage: Die Industrie schafft neue Kapazitäten, wenn sie verbindliche Aufträge zu hohen Preisen hat. Warum dauert es so lange, bis die vergeben werden?

Strack-Zimmermann: Es ist ja nachvollziehbar, dass die Industrie mittel- und langfristige Verträge möchte, um geplant Kapazitäten hochfahren und Personal einstellen zu können. Aber sie ist auch unternehmerisch tätig. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage kann man durchaus erwarten, dass die Firmen nicht auf einen Zehnjahresplan bauen wie einst die volkseigenen Betriebe in der DDR, sondern ins unternehmerische Risiko gehen. Sie verdienen schließlich auch eine Menge Geld. Die Mischung macht’s: verlässliche Rahmenbedingungen und vorausschauende unternehmerische Entscheidungen.

Frage: In Russland scheint trotz aller Sanktionen die Rüstung auf Hochtouren zu laufen. Sind Autokratien besser geeignet dafür, alle Kräfte für ein Ziel zu mobilisieren?

Strack-Zimmermann: Darüber entscheiden ja keine frei gewählten Abgeordneten. Putin setzt ausschließlich auf Kriegswirtschaft. Wenn der Krieg vorbei ist, wird Russland nur noch Waffen haben. Von Waffen wird aber keiner satt. Für die Menschen in Russland eine sich ankündigende Katastrophe. Sie werden in unvorstellbarer Armut versinken.

Frage: Wie glaubwürdig ist angesichts der verzweifelten militärischen Lage in der Ostukraine das Versprechen, dass wir der Ukraine so lange wie nötig helfen?

Strack-Zimmermann: Das ist ein großes Versprechen: „as long as it takes“. Ich halte es für erforderlich, aber was bedeutet es in der Realität? Die Ukraine ist wie ein Mann, der kurz vor dem Ertrinken ist. Er bekommt zwar viele Rettungsringe zugeworfen, damit er nicht untergeht. Aber keiner greift ihm beherzt unter die Arme, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Wir machen zwei Schritte vor und einen zurück. Das ist ein historischer Fehler, den wir alle noch bitter bereuen werden.

Frage: Was braucht es denn, um die Ukraine aus dem Wasser zu ziehen?

Strack-Zimmermann: Neben der wirtschaftlichen und humanitären Unterstützung und der Perspektive, dass die Ukraine im Laufe des Jahrzehnts Mitglied der EU werden kann, müssen wir weitere Waffen liefern. Was wir bisher geliefert haben, ist exzellent, reicht aber nicht aus. Ich weise auch hier auf den Taurus hin …

Frage: … den Marschflugkörper, den die Ukraine gern hätte.

Strack-Zimmermann: Dieses hochwirksame Waffensystem wird dringend gebraucht, um Russlands Nachschub zu schwächen, aber aus mir unerklärlichen Gründen seit Monaten verweigert.

Frage: Weil der Bundeskanzler das nicht möchte.

Strack-Zimmermann: Offensichtlich. Wir benötigen dringend eine Strategie, was wir eigentlich in Zukunft noch unterstützend machen können. Das erwarte nicht nur ich. Wir reagieren immer nur auf die Bitten der Ukraine. Das wird auf Dauer aber nicht reichen.

Frage: Glauben Sie daran, dass alle russisch besetzten Gebiete befreit werden können?

Strack-Zimmermann: In einem solch grauenvollen Krieg gehen einzelne Schlachten verloren. Das heißt aber nicht, dass der Krieg verloren geht. Das große Problem ist der Zeitfaktor. Putin zielt darauf ab, dass wir in Diskussionen versinken und die ukrainische Abwehr schwächen, weil wir nicht schnell genug sind.

Frage: Haben Sie ein Beispiel?

Strack-Zimmermann: Wir haben sage und schreibe sieben Monate diskutiert, ob und, wenn ja, wie viele Schützenpanzer Marder und Kampfpanzer Leopard wir der Ukraine zur Verfügung stellen. Als die Entscheidung endlich getroffen war, hatten die Russen die Zeit genutzt, um über Hunderte Kilometer Stellungen auszuheben und flächendeckend zu verminen.

Frage: Wir Deutschen diskutieren wieder die Wehrpflicht. Geht es dabei um eine militärische Notwendigkeit oder um einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft?

Strack-Zimmermann: Wer die Wehrpflicht wieder aktivieren will, muss erst mal erklären, wie das praktisch gehen soll. Wir haben nicht genug Kasernen, nicht genug Ausbilder, geschweige denn genug Material, um jährlich Hunderttausende junge Männer und Frauen auszubilden. Es wäre zudem hoch problematisch, so viele junge Menschen dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt zu entziehen. Wir lösen das Personalproblem der Bundeswehr nicht mit Scheindiskussionen, sondern indem wir die Bundeswehr wieder zu einer einsatzbereiten, gut ausgerüsteten und damit attraktiven Armee machen. So wird man auch wieder junge Leute motivieren, diesen nicht ganz gewöhnlichen Beruf in Verantwortung zu ergreifen.

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