KUBICKI-Interview: Was interessiert Sie meine Moral?

Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki gab dem „Planet“ gestern das folgende Interview. Die Fragen stellte Jakob Buhre.

Frage: Herr Kubicki, in Ihrem Buch „Sagen, was Sache ist!“ schreiben Sie auch über Erfolg. Was gehört für Sie zwingend dazu, wenn man als Politiker erfolgreich sein will?

Kubicki: Man muss Menschen überzeugen können, man sollte Menschenfischer sein. Jemand, der Menschen abstößt, wird nie ein erfolgreicher Politiker sein. Jemand, der sich ausschließlich um seine eigene Partei kümmert, aber alles andere brach liegen lässt, wird keinen Erfolg haben. Der wird zwar aufgestellt, wird vielleicht auch von 50 Leuten auf dem Parteitag bejubelt, aber Wahlen gewinnt der nicht. Ohne dass ich das denunziatorisch meine, aber Ralf Stegner zum Beispiel wird nie Wahlen gewinnen.

Frage: Warum nicht?

Kubicki: Er ist zwar ein sehr intelligenter Politiker, aber alleine aufgrund seines Auftretens, seiner Art zu kommunizieren, zu reden, zu polarisieren, wird er nie in der Lage sein, eine große Mehrheit von Menschen zu begeistern. Er hat in Schleswig-Holstein als Spitzenkandidat bzw. als Landesvorsitzender der SPD die historisch schlechtesten Ergebnisse seiner Partei zu verantworten. Björn Engholm oder Willy Brandt konnten begeistern, das waren Persönlichkeiten mit Ausstrahlung. Engholm, den ich selbst noch erlebt habe, konnte ein Telefonbuch vorlesen und die Menschen waren hingerissen. Bei ihm hatten die Menschen das Gefühl, wahrgenommen, ernst genommen oder in den Arm genommen zu werden. Bedauerlicherweise verfügen die Sozialdemokraten in ihrer Führungsspitze momentan über niemanden, der diese Kriterien ansatzweise erfüllen könnte.

Frage: Welche Politiker würden Sie als Ihre Vorbilder nennen?

Kubicki: Otto Graf Lambsdorff zum Beispiel. Er war kein Menschenfischer, er kam auch nicht sympathisch rüber, er wurde aber respektiert, weil er knallhart für seine Positionen gefochten hat. Er ist vom Parteitag nicht um acht nach Hause, sondern hat mit den Jungdemokraten noch bis tief in die Nacht debattiert, er ist keiner Diskussion ausgewichen. Das verschafft Respekt. Ein ganz anderer Typ war Hans-Dietrich Genscher. Mit seiner abwägenden Art hat er in Konfliktsituationen für Ruhe und Besonnenheit gesorgt. Das hat ihm Respekt und Beliebtheit eingetragen. Auch Angela Merkel vermittelt oft diese Ruhe. Als sie 2008 während der Finanzkrise sagte „die Spareinlagen sind sicher“ war das zwar falsch, hatte aber eine beruhigende Wirkung. Diese Eigenschaft trägt nach wie vor zur Beliebtheit der Kanzlerin bei.

Frage: Was ist noch wichtig außer Besonnenheit?

Kubicki: Authentizität. Denn aus Sicht der Bürger ist die politische Klasse oft nicht authentisch: Der Vorwurf: Politiker paraphrasieren, geben Leersätze von sich, wissen im Zweifel gar nicht, wie man ein Problem lösen kann, aber versuchen den Eindruck zu vermitteln, „bei uns ist es in guten Händen“. Es gibt nur wenige Menschen, die allein durch ihr Auftreten den Menschen das Gefühl geben: Dem trauen wir zu, mit der Sache fertig zu werden.

Frage: Wie wichtig ist Bürgernähe?

Kubicki: Wenn Sie authentisch wirken wollen, brauchen Sie Bürgernähe, die Leute müssen das Gefühl haben ‚das ist einer von uns‘. In Wahlkämpfen bemerke ich oft bei Parteifreunden, dass sie Angst vor Menschen haben. Sie stellen sich hinter den Stehtisch und freuen sich, wenn keiner auf sie zukommt. So gewinnt man aber keine Wählerstimmen. Ich gehe immer auf die Menschen zu, was mir auch Spaß macht. Ich ertrage es auch, angegriffen oder bepöbelt zu werden – auch dann hat man ja eine Form der Kommunikation erreicht. Wenn man vor vielen Menschen spricht, ist es auch wichtig, Blickkontakt zu halten, eine Rede nicht abzulesen, sondern relativ frei zu sprechen. Das stellt auch Nähe her.

Frage: Mussten Sie sich die Bürgernähe verordnen oder kam die ganz automatisch?

Kubicki: Das ist niemandem in die Wiege gelegt, das entwickelt sich durch praktische Übung. Bei mir kam es zum einen durch den Anwaltsberuf, in dem ich mit einer Vielzahl von Menschen Kontakt hatte, die nicht aus meinem sozialen Umfeld stammten. Und zum anderen durch die Vielzahl von öffentlichen Auftritten und Aktivitäten. Ich habe Lernerfahrungen gemacht, was funktioniert und was nicht.

Frage: Was funktionierte denn nicht?

Kubicki: Um das Jahr 2005 herum habe ich mir Aufzeichnungen meiner Wahlkampfauftritte angeschaut und festgestellt, dass die nonverbale Kommunikation mit meinen Aussagen nicht übereinstimmte. Sie können nicht über die Frage einer Kita-Reform, über die Sorgen der Kinder sprechen, wenn sie steif in Nadelstreifenanzug und Krawatte dastehen. Ich kann das jedem empfehlen, sich eine eigene Rede auf Video anzuschauen, dabei den Ton wegzudrehen und zu gucken, wie man steht und wirkt. Ich wirkte damals abwehrend und distanziert zum Publikum, wie ein Kühlschrank. Und als Kühlschrank können Sie keine Wärme entfachen.

Frage: Wie wichtig ist es, häufig Gast in Talkshows zu sein?

Kubicki: Das ist wichtig für die Bekanntheit. Ohne Bekanntheit können Sie keine Sympathie erringen und ohne Sympathie keine positive Wahlentscheidung herbeiführen. Für den Bekanntheitsgrad sind die elektronischen Medien nach wie vor unschlagbar. Es reicht aber nicht, in einer Talkshow zu sitzen, sie müssen auch irgendetwas tun oder sagen, was Eindruck hinterlässt. Wobei ich auch schon die Erfahrung gemacht habe, dass die bloße Anwesenheit einen Eindruck hinterlässt: Ich war einmal Gast bei „Stern TV“ in Köln, wo ich sechs Minuten neben der deutsch-iranischen Komikerin Enissa Amani saß.

Frage: Und Sie kamen nicht zu Wort?

Kubicki: Nein, sie nutzte die Sendezeit fast vollständig für sich, weder der Moderator noch ich kamen dazwischen. Trotzdem bekam ich am nächsten Tag E-Mails wie „tolle Sendung“ und „ich unterstreiche alles, was Sie gesagt haben.“ Daran merken Sie, dass visuelle Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Den Leuten, die mir geschrieben haben, hatten offenbar den Eindruck, dass es keine Situation gibt, in der ich sprachlos bin. Sie haben deshalb ihre Erwartungen mit dem verbunden, was sie gesehen haben – und mich am nächsten Morgen dazu beglückwünscht.

Frage: Zuletzt haben Sie sich in Interviews zur Bewegung „Fridays for Future“ geäußert. In der „Welt“ sagten Sie, dass Sie es nachvollziehen können, „wenn viele Menschen genervt sind vom Auftreten der „Fridays for Future“-Bewegten.“ Sind Sie genervt von Greta Thunberg?

Kubicki: Ich bin nicht von dem Protest genervt, sondern von dem Alarmismus und dem Rigorismus. In der Tendenz ist das antidemokratisch und rechtsstaatsfeindlich. Wenn nämlich behauptet wird, es gäbe nur einen Weg, um die Menschheit zu retten, und zwar den Weg, den die Aktivisten im Kopf haben, dann dürfen Sie nicht mehr zwischen verschiedenen Lösungsansätzen wählen. Dann dürfen Sie keine Klage mehr zulassen gegen Windräder oder Stromleitungen. Dann können wir uns unseren Rechtsstaat und unsere demokratischen Prozesse sparen.

Frage: Greta Thunberg verweist die Politiker ja auf Experten-Berichte, im US-Senat sagte sie „Laden Sie Wissenschaftler ein und fragen Sie die nach ihrer Einschätzung. Wir wollen nicht gehört werden. Wir wollen, dass die Wissenschaft gehört wird“.

Kubicki: Ja, die US-amerikanische Politik hat hier auch wirklich Nachholbedarf. In Deutschland sind sich die meisten Parteien einig, dass wir deutlich mehr machen müssen – mit Ausnahme der AfD. Abgesehen davon: Das Interessante an Experten-Berichten ist, dass die manchmal auch komplett falsch liegen können. Denn das Ozonloch hat sich mittlerweile erholt – anders als es in den 1980ern von Experten prognostiziert wurde. Die Prognosen des „Club of Rome“ von Anfang der 1970er Jahre sind nicht eingetreten. Ich rate dazu, die Probleme sachlich und mit kühlem Kopf anzugehen, statt mit Panik, wie es Greta Thunberg fordert. Man kann mit dieser Form von Alarmismus Politik gestalten, ich halte das aber für untauglich. Vor allem kann man mit dieser Form des Alarmismus auch sehr viel Geld verdienen, denn viele Aktivisten schreiben jetzt plötzlich Bücher – die im Übrigen eine sehr schlechte CO2-Bilanz haben.

Frage: Damit Geld zu verdienen hat Greta Thunberg wahrscheinlich nicht im Sinn.

Kubicki: Nein, das glaube ich auch nicht.

Frage: Sie fordert die Politiker auf, zu handeln.

Kubicki: Sie hat bei der UNO nicht nur den chinesischen Staatspräsidenten angegriffen, sondern auch demokratische Staatenlenker. Warum meint sie, dass sie mehr Berechtigung hat, über ein Thema zu sprechen, als demokratisch gewählte Regierungschefs? Wenn das Thema für breite Schichten so virulent ist, warum bekommen die Grünen dann in Deutschland nicht die absolute Mehrheit?

Frage: Aber die Naturphänomene nehmen doch auch Sie wahr, wenn etwa Gletscher schmelzen und der Permafrostboden auftaut.

Kubicki: Das ist so, ja. Aber die Frage ist: Auf welche Art und Weise können wir diese Entwicklung beeinflussen und möglichst stoppen? Ich bin sehr dafür, dass man mit Innovation, technologischen Möglichkeiten das Problem der CO2-Emissionen in den Griff bekommt. Bisher ist es noch nie in der Geschichte der Menschheit gelungen, Fortschritt durch Verzicht zu erzielen. Bisher gelang dies immer durch technische Innovation. Warum sollte es heute anders sein? Ich bin dafür, dass man das rational und sachlich diskutiert – und nicht mit dieser moralischen Überheblichkeit.

Frage: Thunberg sagte kürzlich beim UNO-Klima-Gipfel in New York: „Die Menschen leiden, Menschen sterben, die Ökosysteme kollabieren, wir stehen am Anfang einer Massen-Ausrottung und alles, worüber ihr redet, ist Geld und Märchen von ewigem Wirtschaftswachstum.“ Ewiges Wirtschaftswachstum, brauchen wir das?

Kubicki: Wir hatten es regelmäßig. Und mit der Frage des ökologischen Fußabdrucks hat das überhaupt nichts zu tun. Jeder technische Fortschritt führt zu Wachstum. Wachstum hat nichts mit dem Verbrauch von Ressourcen zu tun. Es gäbe auch wirtschaftliches Wachstum, wenn wir ein klimaneutrales Perpetuum Mobile erfinden würden. Wir koppeln übrigens in Deutschland den CO2-Verbrauch vollständig ab vom Wirtschaftswachstum.

Frage: Aber dass das Wirtschaftswachstum zu einem Raubbau an der Natur geführt hat, ist doch offensichtlich, oder?

Kubicki: In Teilen stimmt das. Aber das hat vor allem etwas damit zu tun, dass früher die Frage des Ressourcen-Verbrauchs keine so dynamische Rolle gespielt hat wie gegenwärtig. Weil nämlich Ressourcen ausreichend zur Verfügung gestanden haben. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat im vergangenen Jahr, damals als Co-Vorsitzender des Club of Rome, gesagt: Die Frage des Bevölkerungswachstums sei das derzeit größte globale Problem. Hätten wir noch die Bevölkerung von vor 50 Jahren, dann hätten wir nicht die Probleme, vor denen wir heute stehen.

Frage: Das heißt, man muss sich eher um das Bevölkerungswachstum kümmern?

Kubicki: Nein, es besteht da keine Alternative, man kann das eine Problem nicht lösen ohne das andere. Es funktioniert nur, wenn Sie in den Ländern, in denen die Bevölkerung überdurchschnittlich wächst, sehr viel für Bildung tun und für die wirtschaftliche Entwicklung. Denn wenn es Gesellschaften besser geht, der Wohlstand wächst, die Bildung verbessert wird, dann lässt die Reproduktionsrate nach. So traurig es klingt: In vielen Ländern werden viele Kinder als notwendig für die Alterssicherung angesehen. Insofern wären wir gut beraten, wenn wir als Deutsche unsere Entwicklungshilfe gezielt auch auf die Lösung dieser Frage ausrichten würden.

Frage: Nun gibt es neben Greta Thunberg noch weitere Kritiker eines ewigen Wirtschaftswachstums…

Kubicki: Ja, diese Menschen müssen dann aber erklären, wovon sie Sozialleistungen bezahlen wollen. Sie können nur in einer Gesellschaft verteilen, was erwirtschaftet worden ist. Wenn Sie kein Wirtschaftswachstum mehr haben wollen, oder gar negatives Wachstum, dann werden Sie sehr schnell feststellen, dass der Staat die Kindertagesstätten nicht mehr kostenfrei zur Verfügung stellen kann, dass die Renten nicht mehr bezahlt werden können, dass die Gesundheitsversorgung zusammenbricht usw. Kann man alles machen, wird aber nicht auf die breite Zustimmung der Bevölkerung treffen.

Frage: Noch eine andere Frage zum Thema Erfolg: Hat es eigentlich zu Ihrem Erfolg beigetragen, dass Sie nie ein Ministeramt übernommen haben?

Kubicki: Nein, das hat damit nichts zu tun. Das war meine Entscheidung, unabhängig zu bleiben, meinen Beruf auszuüben.

Frage: Wie ist Ihre zeitliche Aufteilung zwischen Abgeordnetem-Mandat und dem Anwaltsberuf?

Kubicki: Als ich noch im Landtag saß, war es ungefähr 50/50, wobei die Inanspruchnahme in Plenar- und Haushaltswochen nahezu 100 Prozent ist, während in Monaten von Juli bis September politisch kaum etwas los ist. Heute schaffe ich nicht mehr als 10 Prozent des Anwaltsberufs, weil die Inanspruchnahme in Berlin doch wesentlich intensiver ist.

Frage: Im Buch schreiben Sie, dass man als Verteidiger „grundsätzlich nur Unschuldige“ verteidigt. Haben Sie Mandate immer nur dann angenommen, wenn Sie von der Unschuld Ihrer Mandanten überzeugt waren?

Kubicki: Nein, das ist kein Kriterium. Genauso wenig wie sich ein Arzt die Frage stellt, wen er auf dem Operationstisch hat. Ich bin dafür da, dass im Sinne der Rechtspflege ein rechtsstaatlicher Verfahrensablauf gesichert ist. Wenn ich jedes Mal eine eigene moralische Wertung vornehmen müsste, könnte ich meinen Beruf nicht ausüben.

Frage: Sie sind häufig Verteidiger in Steuerstrafsachen…

Kubicki: Ich bin spezialisiert auf Wirtschafts- und Steuerstrafsachen.

Frage: Wie kam es zu dieser Spezialisierung?

Kubicki: Ich bin von Haus aus Volkswirt, das heißt, ich kann Bilanzen nicht nur lesen, sondern auch selbst herstellen. Und ich weiß, worauf man achten muss. Insofern kann ich feststellen, wann was funktioniert oder nicht funktioniert. Und da mein Counterpart immer die Staatsanwaltschaft ist, also der Staat, bin ich von dem Vorwurf befreit, dass mir Mandate aufgrund meiner politischen Betätigung zugeschanzt worden sind. Niemand lässt sich von mir verteidigen, weil ich im Parlament sitze. Eine schmerzliche Erfahrung habe ich in dieser Hinsicht gemacht, als ich Anfang der 1990er Jahre das Land Mecklenburg-Vorpommern in Zivilsachen beraten habe. Daraus habe ich gelernt: Wann immer ich in Zivilsachen annehmen würde, es würde jedes Mal von bestimmten politischen Kräften den Vorwurf geben, dass ich das Mandat nur aufgrund von politischen Ämtern oder Beziehungen übernehme. Das ist bei Strafverteidigung ausgeschlossen.

Frage: Wie stehen Sie dazu, dass große US-Konzerne in der EU viele Jahre keine oder nur kaum Steuern gezahlt haben? Die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager führt an, dass zum Beispiel Amazon zwischen 2006 und 2014 auf drei Viertel seines Gewinns in Europa keine Steuern gezahlt hat. Ist das Ihrer Ansicht nach legitim?

Kubicki: Zunächst mal: Ein Bürger muss nur befolgen, was der Staat ihm aufgibt. Solange etwas legal ist, kann ich das nicht beanstanden. Jedenfalls kann es nicht Gegenstand eines Strafverfahrens sein. Da kommt es auf die Frage der Legitimität nur am Rande an. Ich bin ohnehin der Überzeugung, dass in einem demokratischen Rechtsstaat nichts illegitim sein kann, was legal ist. Vielmehr muss man die Frage stellen, warum die Politik so lange gebraucht hat, darauf zu reagieren. Sie können doch einem Bürger nicht vorwerfen, wenn er sich an Gesetze hält. Sie können ja freiwillig gerne mehr Steuern zahlen. Das hat unsere grüne Finanzministerin in Schleswig-Holstein übrigens mal gemacht: Weil viele Leute gesagt haben, sie würden gerne freiwillig mehr bezahlen, hat das Land damals einen Fonds eingerichtet, in den man einzahlen kann. Fragen Sie mal nach, wie viele dort eingezahlt haben.

Frage: Meine Frage zielte auf Firmen, die sehr offensichtlich Steuerschlupflöcher genutzt haben.

Kubicki: Wenn der Verdacht besteht, dass Steuern hinterzogen wurden, dann muss ermittelt werden. Solange aber keine Steuerhinterziehung vorliegt, kann es nicht verfolgt werden.

Frage: Was halten Sie denn von dem Begriff „Steuerschlupfloch“?

Kubicki: Das ist eine Umschreibung dafür, dass Steuergestaltungsmittel aufgelegt und genutzt worden sind, die der Gesetzgeber zugelassen hat. Wenn Sie heute BWL studieren, gibt es ein eigenes Fach „Steueroptimierung“. Weil jeder CFO eines Unternehmens, der Steueroptimierung nicht betreibt – im legalen Bereich – ein Untreuedelikt gegenüber dem Unternehmen begeht. Er hat die Vermögensinteressen des Unternehmens zu schützen.

Frage: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Briefkastenfirmen im Ausland benötigt werden…

Kubicki: Ja, tatsächlich.

Frage: …zum Beispiel für Reedereien…

Kubicki: Die ganze Ausflaggung, die wir in Deutschland haben, hat etwas mit Briefkastenfirmen zu tun.

Frage: Wenn nun der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück sagt, neun von zehn Briefkastenfirmen dienten „dem vorsätzlichen Steuerbetrug“ (Stern-Interview 2016)…

Kubicki: …dann ist die erste Frage, ob er wirklich Ahnung hat. Und die zweite Frage ist, warum er nicht in seiner Zeit als Finanzminister dafür gesorgt hat, dass das aufhört. Ich liebe solche Leute, die ihr eigenes Versagen damit kaschieren, dass sie mit dem Finger auf andere zeigen. Die Tatsache, dass die Cum-Ex-Geschäfte nicht geschlossen worden sind, bis Schwarz-Gelb 2012 reagiert hat, hat auch Peer Steinbrück zu verantworten und sein damaliger Staatssekretär Jörg Asmussen, der übrigens heute bei der Investmentbank Lazard arbeitet. Schon 2002, spätestens 2007 war dem Bundesfinanzministerium bekannt, um welches Problem es ging und es war auch bekannt, wie man das schließen kann. Das wäre ganz einfach gewesen. Und man muss fragen, warum es nicht gemacht wurde. Für die meisten der Cum-Ex-Verluste, die aufgetreten sind, ist Peer Steinbrück als Finanzminister verantwortlich. Er hätte das verhindern können.

Frage: Die Cum-Ex-Verluste hatte der Staat. Diejenigen, die die das Cum-Ex-Konstrukt nutzten, ließen sich mehrfach die Kapitalertragssteuer erstatten.

Kubicki: Das hat damit zu tun, dass der Bundesfinanzhof 1997 entschieden hat, dass es an einer Aktie sowohl rechtliches als auch wirtschaftliches Eigentum geben kann. Und das Problem war, bis zum Jahr 2012, dass die Finanzbehörden verpflichtet waren, Bescheinigungen zu erteilen, über die Anrechnung von Kapitalertragssteuer, und zwar sowohl dem juristischen als auch dem wirtschaftlichen Eigentümer. Das haben sich einige sehr intelligent zu Nutze gemacht. Ich würde auch sagen, das überschreitet meine Grenze des unter Ihren Gesichtspunkten legitim Nachvollziehbaren. Weil den beteiligten Akteuren klar war, dass die Unternehmen die Kapitalertragssteuer nur einmal ans Finanzamt abgeführt hatten – und trotzdem mindestens zwei Personen die Möglichkeit hatten, sich durch eine Bescheinigung des Finanzamts die Kapitalertragssteuer erstatten zu lassen.

Frage: Wie ist es da mit der Legitimität…

Kubicki: Ohne die Bescheinigung der Finanzämter wäre es nicht gegangen.

Frage: Das ist klar. Und wenn die Cum-Ex-Geschäfte legal waren, wird das vor Gericht vermutlich auch ausreichen.

Kubicki: Momentan gibt es mehrere Verfahren, eines in Bonn, eines in Wiesbaden. Dort wird geklärt werden, ob es ein gesetzgeberisches Versagen oder Billigend-Inkaufnehmen war. Sprich, war die Regelung von 2012 nur eine Klarstellung des ohnehin bereits Bestehenden (quasi Gewollten), oder war es eine Neufassung? Wenn es eine Neufassung war, kann es keine strafrechtliche Verurteilung geben.

Frage: Vor Gericht wird es womöglich ausreichen, dass die Geschäfte legal waren. Aber reicht Ihnen das auch? Es geht ja um sehr große Summen an Steuergeld…

Kubicki: In einem Rechtsstaat gibt es ein einfaches Prinzip: Wenn jemand freigesprochen wird, ist er unschuldig. Wenn alle Anwälte so arbeiten würden, wie Sie sich das vorstellen, dann hätten wir ein großes Problem. Die Überlegung, dass ich als Anwalt in dieser Sache, bevor ein Gericht das entscheidet, selbst zu einem Urteil komme, die ist für den Anwaltsberuf kontraproduktiv. Menschen, die so denken, dürfen auch niemals Staatsanwälte werden, weil sie ihre eigenen moralischen Vorstellungen vor das Gesetz stellen. Das fände ich bedenklich, denn keine Moral steht über dem Gesetz. Ansonsten hätten wir Willkür.

Frage: Mich interessiert tatsächlich Ihre moralische Vorstellung in Bezug auf die vielen Milliarden, die dem Staat dort entwendet wurden.

Kubicki: Zunächst: Der Begriff „entwendet“ ist wahrscheinlich falsch, der Staat hat das Geld ausgeschüttet in Kenntnis der Sachlage. Das hat mit „entwenden“ gar nichts zu tun. Und: Was interessiert Sie meine Moral? Wir haben mit Sicherheit völlig unterschiedliche moralische Vorstellungen. Ich finde es unmoralisch, dass Leute nicht arbeiten wollen und dann Geld vom Staat verlangen. Ich finde es auch unmoralisch, dass der Staat von mir Geld haben will und damit Unsinn treibt. Das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler zeigt ja, dass nicht immer sorgsam mit den Steuermitteln umgegangen wird. Ich wäre gerne bereit, fünf Prozent mehr Steuern zu zahlen, wenn ich bestimmen dürfte, wofür das Geld ausgegeben wird.

Frage: Kann man zumindest sagen, dass der Staat bei den Cum-Ex-Geschäften so lange ausgenommen wurde, bis er regulierend eingegriffen hat?

Kubicki: Das würde bedeuten, er hätte es nicht gewusst. Und das ist nachweislich falsch. Es gibt eine Bundestagsdrucksache von 2007, in der genau drin steht, dass das bisher legal war und weiterhin – unter Beteiligung ausländischer Banken – legal bleibt. Drucksache des Deutschen Bundestages, Vorlage Bundesfinanzministerium.

Frage: Erklärt sich so ein Stück weit der Reiz des Mandats für Hanno Berger, das Sie übernommen haben? Um moralisierenden Menschen, mich eingeschlossen, zu zeigen, wie bei den Cum-Ex-Geschäften die Rechtslage war?

Kubicki: Wenn wir alle eine TED-Abstimmung machen würden, wie bei der „Bild“-Zeitung, wer wann schuld oder nicht schuld ist, dann gnade uns Gott. Wir hatten das schon mal im Fall von Jörg Kachelmann. Der wurde am Ende von Gerichten freigesprochen. Aber wenn wir das moralische Mehrheitsprinzip einführen, dann hauen wir uns demnächst die Köpfe ein, weil wir unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was gerecht oder nicht gerecht ist. Es muss eine Instanz geben, die diese Konflikte friedlich löst, und das können nur Gerichte sein. Niemand sonst.

Frage: Sie sagten gerade, Sie finden es unmoralisch, wenn jemand nicht arbeiten geht und andere dafür zahlen. Und in Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie sich alles selbst erarbeitet haben, „nichts wurde mir geschenkt“. Aber funktioniert das in Deutschland im Moment wirklich für jeden? Kann jeder erfolgreich sein, wenn nur der Wille da ist? Stichwort: Soziale Mobilität…

Kubicki: Ein bisschen Bildung und Ausbildung gehört auch dazu. Aber wenn wir die Aufstiegs-Idee nicht hätten, könnten wir uns alle Fortbildungsmaßnahmen für Arbeitslose oder Hartz4-Empfänger sparen. Auf der einen Seite haben wir eine besondere Verpflichtung, denjenigen zu helfen, die es aus eigener Kraft nicht können, da gibt es eine Menge, aufgrund persönlicher Schicksale, gesundheitlicher Beeinträchtigung etc. Und nicht alle Menschen haben nicht die gleichen Neigungen und Fähigkeiten. Sie sind gleichwertig, aber nicht gleich. Auf der anderen Seite glaube ich schon, dass das Aufstiegsversprechen dieser Gesellschaft gilt und durchgehalten werden kann. Gucken Sie sich die Biographien an, von Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel, von mir oder von Ralf Stegner – das wäre in anderen Systemen nie denkbar gewesen. Das kann nicht jeder, aber die meisten könnten das.

Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie auch über das Erfolgs-Verständnis der SPD: „Erfolg ist für die Sozialdemokraten etwas Schlechtes geworden“. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Kubicki: Die Sozialdemokraten haben die Orientierung verloren. Das Godesberger Programm war ein Meilenstein in der Geschichte der SPD, weil es das Aufstiegsversprechen der Sozialdemokraten in dieser Gesellschaft manifestiert hat. Die SPD sagte: Wir garantieren, dass in diesem Land jeder nach seinen eigenen Begabungen und Fähigkeiten alles werden kann, wenn er sich denn anstrengt. Eine bedingungslose Alimentierung gab es nicht. Doch diese Position hat die SPD verlassen, mit der Maßgabe, dass sie sich – warum auch immer – ausschließlich auf die Verteilung von Transferleistungen versteift hat. Das tut sie mittlerweile in Konkurrenz zur Linken und zur AfD. Und das erklärt, warum sie bei den Wahlen immer weiter verloren hat. Weil der Kuchen der Zu-kurz-Gekommenen nicht gewachsen, sondern kleiner geworden ist und mehr Parteien auf dem Spielfeld sind.

Frage: Und Sie meinen, die Zahl der Zu-kurz-Gekommenen in Deutschland ist kleiner geworden?

Kubicki: In der Tat. Oder wollen Sie mir sagen, dass 17 Jahre Regierungsbeteiligung der SPD seit 1998 die Armut vergrößert hat? Nach wie vor gibt es in der Gesellschaft ungleiche Verteilungen, aber in Relation zur Vergangenheit ging es noch keiner Generation so gut wie der heutigen.

Frage: Wenn man nun in Berlin feststellt, dass immer mehr Menschen Flaschen sammeln – vermittelt das dann ein falsches Bild?

Kubicki: Ich habe kürzlich gelesen, dass die Zahl der Flaschensammler auch deshalb größer geworden ist, weil viele Menschen aus osteuropäischen Ländern extra deswegen nach Deutschland kommen (Wolfgang Kubicki verweist hierzu auf dieses Interview auf vice.com, Anm. d. Red.). Auch früher litten Menschen an Armut. Das Sozialsystem, das wir aufgebaut haben, war aber noch nie so umfangreich wie gegenwärtig. Wir müssen uns die Frage stellen, warum so viele Menschen von staatlichen Mitteln abhängig sind, und warum bei manchen die Bereitschaft fehlt, sich einzubringen. Es gibt leider einige Menschen, die sich daran gewöhnt haben, nicht zu arbeiten und sich alimentieren zu lassen. Das kann man akzeptieren, muss man aber nicht.

Frage: Sie erwähnen ungleiche Verteilungen in der Gesellschaft. In der Schweiz gab es 2013 die Volksinitiative 1:12, mit dem Ziel, dass in einem Unternehmen niemand mehr als zwölf Mal so viel verdient wie der am geringsten bezahlte Mitarbeiter. Die Initiative scheiterte, trotzdem die Frage: Mit welchem Faktor könnten Sie leben, wenn nicht sogar mit 1:12?

Kubicki: Das ist mir relativ egal. Ich halte von Gehaltsobergrenzen auf gesetzlichem Wege überhaupt nichts. Entscheidend ist, dass bei Personenunternehmen der Eigentümer darüber befinden kann, was er für gerechtfertigt hält oder nicht. Und bei Aktiengesellschaften sollte die Hauptversammlung darüber bestimmen. Wenn die Aktionäre, denen das Unternehmen gehört, über die Gehälter bestimmen würden, wären wahrscheinlich die ausufernden und unanständigen Zahlungen an Manager wie Martin Winterkorn nicht so hoch ausgefallen.

Frage: Der Autor und Gemeinwohl-Ökonom Christian Felber rechnete bei uns im Interview einmal vor, dass das höchste bekannte Einkommen von Porsche-Manager Wendelin Wiedeking „ungefähr 8500-mal so hoch war wie ein angenommener Mindestlohn von wenigstens 1000 oder 1200 Euro netto.“ Welchen Sinn ergibt es, wenn ein Chef hundert oder tausend mal mehr verdient wie seine Mitarbeiter?

Kubicki: Selbst wenn ich die Managergehälter begrenzen würde, die Arbeiter würden dadurch nicht mehr verdienen.

Frage: Nein?

Kubicki: Wenn die Hauptversammlung entscheidet, ‚dieser Manager ist uns so viel wert‘, dann habe ich das zu akzeptieren. Genauso wie wir akzeptieren, dass manche Fußballer einen zweistelligen Millionenbetrag pro Jahr bekommen. Solange die Menschen das freiwillig bezahlen, die ins Stadion gehen, bin ich der letzte, der das kritisiert. Mir geht es doch nicht besser dadurch, dass es denen schlechter geht. Selbst wenn der Chef „nur“ 100 mal mehr verdient, bekomme ich als einfacher Arbeiter doch dadurch nicht mehr Geld.

Frage: Die Idee dahinter wäre tatsächlich, gerechter zu verteilen.

Kubicki: Das würde heißen, der Staat beschließt, wie Löhne und Gewinne eines Unternehmens entstehen. Wie stellen Sie sich das vor? So eine Wirtschaft hatten wir schon mal, die ist gnadenlos kaputt gegangen.

Frage: Ich sage nicht, dass der Staat dem Unternehmen die Strategie vorgibt, sondern dass innerhalb von Unternehmen anders verteilt wird. Wäre das für Sie ein zu großer Eingriff?

Kubicki: Wenn der Staat das nicht vorgeben soll: Wer soll das denn bestimmen? Die Linke? Die Grünen? Der Bundestag?

Frage: In der Schweiz hat man die Bevölkerung gefragt.

Kubicki: Das war die Idee der Begrenzung der Manager-Gehälter. Das begrenzt die Bezüge des Chefs, es ändert aber nichts an den Bezügen des kleinsten Arbeiters. Abgesehen davon waren fast zwei Drittel der Schweizer dagegen. Das ist ziemlich deutlich.

Frage: Noch drei kurze Schlussfragen. Was sind Ihre persönlichen Klimavergehen?

Kubicki: Ich habe keine. Im Gegenteil, ich diene dem Klimaschutz, indem ich mich weniger aufrege. Denn je mehr Sie sich aufregen, desto mehr CO2-Exposition haben Sie.

Frage: Der Markt regelt alles?

Kubicki: Nein. Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen, da kann der Markt gar nichts regeln. Aber Wettbewerb ist wichtig. Wenn man keinen Wettbewerb hat, gibt es keinen Anreiz zur Innovation. Ich versuche gerade hier im Deutschen Bundestag, Wettbewerb zwischen verschiedenen Behörden herzustellen, damit ein paar Baumaßnahmen, die seit langer Zeit rumliegen, endlich zu Ende gebracht werden.

Frage: Muss man Workaholic sein, um erfolgreicher Politiker zu werden?

Kubicki: Nein, gar nicht. Man muss nur lernen, die eigene Zeit richtig einzuteilen.

Frage: Haben Sie das immer geschafft?

Kubicki: In den letzten Jahren werde ich darin immer besser.

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