LINDNER-Interview: Die FDP ist die einzige Partei, die die Werte der so genannten Mitte noch vertritt

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab „Focus Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Ulrich Reitz und Sara Sievert. Dies ist Teil 1 des Interviews:

Focus Online: Die CDU hat mit Armin Laschet stark verloren, die SPD ist abgeschlagen. Ist die FDP die letzte Partei der Mitte?

Lindner: Vielleicht sind wir die einzige Partei, die die Werte der so genannten Mitte noch vertritt. Für mich ist das die Betonung von Freiheit und Toleranz, der Vorrang privaten Handelns und der Respekt vor Eigentum wie Leistung eines jeden. Dagegen denkt Friedrich Merz öffentlich über Steuererhöhungen nach. Armin Laschet hat von den Grünen die Idee von Schuldentöpfen neben dem Staatshaushalt adoptiert. Und der CDU-Ostbeauftragte lässt sich mit pauschalen Herabwürdigungen der Ostdeutschen zitieren. Ich sage freundlich: die CDU ist auf Orientierungssuche. Und die Grünen erklären selbst, sie seien eine linke Partei. Deshalb haben wir eine große Verantwortung, den Wählerinnen und Wählern der Mitte ein gutes Angebot zu machen.

Focus Online: Nennen Sie doch einmal die fünf Alleinstellungsmerkmale der FDP.

Lindner: Keine Partei war so sensibel bei der Einschränkung von Bürgerrechten während der Pandemie wie die FDP. Ausgangssperren haben wir immer für unverhältnismäßig und ungeeignet gehalten. Wir verstehen auch nicht unter sozialer Gerechtigkeit die Einführung eines Grundeinkommens wie die Grünen, das ja am Ende auch die Menschen bezahlen müssen, die vielleicht wenig verdienen, aber Steuern bezahlen. Wir stehen für Aufstieg durch Bildung und wollen deshalb in die Stadtteile mit besonderem Förderbedarf auch besonders viele Pädagogen schicken. Als einzige Partei schließen wir Steuererhöhungen für die Beschäftigten aus und für diejenigen, die Verantwortung tragen für Jobs. Wir halten den Klimaschutz für eine Menschheitsaufgabe, wollen den Menschen aber nicht vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben. Der US-Klimabeauftragte John Kerry spricht von der Dekarbonisierung als einer technologischen Aufgabe, mit der ein neuer globaler Wachstumszyklus eingeleitet wird. Das ist begeisternd. So sehen wir das auch. Und wir sind für eine offene Gesellschaft, die mit Meinungsvielfalt tolerant umgeht, die Positionen nicht cancelt, schon gar nicht an Universitäten.

Focus Online: Wer steht eigentlich in der FDP neben ihnen, zum Beispiel beim Thema Gesundheit?

Lindner: Die Frage ist etwas verwunderlich, weil gerade bei Ihnen doch viele unserer Fachleute regelmäßig Gastbeiträge veröffentlichen. Aber ich sage gerne, dass Christine Aschenberg-Dugnus unsere gesundheitspolitische Sprecherin ist. Das von den Menschen sehr geschätzte Corona-Krisenmanagement in Schleswig-Holstein verantwortet unser Gesundheitsminister Heiner Garg.

Focus Online: Bildung?

Lindner: Bildungspolitischer Sprecher unserer Fraktion ist Thomas Sattelberger. Übrigens ein Quereinsteiger, der nach einer Karriere als Vorstand bei Lufthansa und Telekom die Tour von der Basis bis in den Bundestag auf sich genommen hat. Ich glaube, so eine Offenheit für neue Köpfe gibt es nur in der FDP.

Focus Online: Klima?

Lindner: Lukas Köhler, aber ich möchte auch Ihren Gastautor Michael Theurer und unseren NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart nennen.

Focus Online: Finanzen?

Lindner: Beispielsweise Christian Dürr, Katja Hessel, Bettina Stark-Watzinger, Florian Toncar und Otto Fricke.

Focus Online: Verkehr?

Lindner: Oliver Luksic als Sprecher, aber auch etwa Bernd Buchholz als zuständiger Minister in Schleswig-Holstein.

Focus Online: Arbeit und Soziales?

Lindner: Johannes Vogel und Pascal Kober.

Focus Online: Außenpolitik?

Lindner: Alexander Graf Lambsdorff, aber auch Bijan Djir-Sarai und Renata Alt.

Focus Online: Und worum kümmern Sie sich?

Lindner: Moment, jetzt haben Sie mir gar keine Gelegenheit gegeben, andere starke Persönlichkeiten der FDP zu nennen. Denken Sie nur an Wolfgang Kubicki in Fragen der Bürgerrechte und der Meinungsfreiheit. Oder an Marco Buschmann, der für mich einer der neuen politischen Intellektuellen der Republik ist. Oder an Volker Wissing, unseren Generalsekretär, der in unterschiedlichen Konstellationen Regierungspraxis kennt. Von allen dreien suche ich übrigens engsten Rat. Aber okay, wenn Sie nach mir fragen, als Vorsitzender diene ich meiner Partei, indem ich die Gesamtstrategie und die Aufstellung des Teams verantworte. Fachpolitisch habe ich im Landtag NRW und im Bundestag in der Bildungspolitik gearbeitet, ich war Mitglied des Haushalts- und Finanzausschusses sowie des Wirtschaftsausschusses.

Focus Online: Wenn die FDP an die Regierung kommt, welches Ministerium streben Sie an?

Lindner: Vor vier Jahren wäre es das Finanzministerium gewesen, jetzt wird man sehen.

Focus Online: Annalena Baerbock sagt über die Grünen, sie seien so verrückt wie ein Bausparvertrag…

Lindner: Die Grünen vergleichen sich mit Bausparverträgen. Olaf Scholz erklärt, seine Rücklagen lägen auf dem Sparbuch. Das sagt zunächst ganz viel darüber aus, wie aktuell die wirtschaftliche Kompetenz dieser Parteien ist. Jenseits der Metapher von Frau Baerbock werden sich die Menschen die konkreten Vorschläge ansehen. Ein Bausparvertrag ist nicht mehr so gut verzinst wie früher, aber im Unterschied zum Programm der Grünen kommt immerhin noch etwas Positives dabei raus. Das kann man bei den ganzen Steuererhöhungen, Umverteilungen, Verboten und Enteignungen im Programmentwurf der Grünen nicht sagen.

Focus Online: Die Grünen wollen die Einwanderung offensiv fördern, auch über das Asylrecht. Würde die FDP hier mitgehen?

Lindner: Irgendwie würde ich lieber über die Ideen der FDP sprechen, wie wir Deutschland moderner, digitaler und freier machen. Aber ich sage Ihnen auch gerne etwas dazu. Das Einwanderungskonzept der Grünen überzeugt mich nicht. Das war 2017 auch einer der vielen Gründe, warum Jamaika nicht zustande kam. Die Grünen wollen ungesteuerte Einwanderung erleichtern und gleichzeitig die Sozialtransfers deutlich ausbauen. Das schafft einen falschen Anreiz. Deshalb plädiere ich für ein anderes Konzept. Wir sind ein Einwanderungsland. Wir brauchen fleißige Hände und kluge Köpfe, die nach Deutschland kommen. Und wir haben eine humanitäre Verpflichtung beispielsweise für politisch Verfolgte, etwa den von Lukaschenko gekidnappten Blogger Roman Protassewitsch. Wir müssen jedoch klar unterscheiden, ob wir Menschen in unseren Arbeitsmarkt einladen oder ob wir solidarisch sind, weil jemand bedürftig ist. Oder ob jemand weder qualifiziert noch bedroht ist, weshalb eine Einwanderung dann versagt werden kann.

Focus Online: Brauchen wir eine Obergrenze für Einwanderung?

Lindner: Das ist das Vokabular der CSU vor der Wende von Markus Söder. Wenn es nach der FDP geht, brauchen wir Kontrolle einerseits und einen Anreiz für qualifizierte Einwanderung andererseits. Wir haben schließlich einen großen Fachkräftemangel. Die Wahrheit aber ist: Im Moment sind wir unattraktiv für Einwanderer, für Menschen, die sich etwas aufbauen wollen. Kein Staat, außer Belgien, knöpft einer Facharbeiterin oder einem Krankenpfleger über die Steuern so viel Geld ab wie Deutschland. Unser Staat macht es ihnen damit unendlich schwer, im Leben voranzukommen. Unser Bildungssystem ist nicht wettbewerbsfähig. Wer auswandert, überlegt sich doch drei Mal, ob er mit seinen Kindern nach Deutschland kommt. Und wer sieht, dass die AfD Wahlerfolge erzielt, der fragt sich doch: Ist das wirklich die tolerante Gesellschaft, in die ich mit meiner Familie einwandern will? Diese Debatte müssen wir führen. Ein Land nämlich, das für fleißige Hände und kluge Köpfe der Welt attraktiv ist, das ist auch lebenswert für die, die schon lange hier leben.

Focus Online: Grüne und CSU wollen eine Solardach-Pflicht für Neubauten – halten sie das für sinnvoll?

Lindner: In Deutschland wird das Bauen immer teurer, für viele Menschen ist das Eigenheim zu einem unerfüllbaren Wunsch geworden. Und der Haupt-Preistreiber ist der Staat. Deshalb sollten wir mit verpflichtenden Solardächern erst einmal auf öffentlichen Gebäuden anfangen.

Focus Online: Städte wie Amsterdam lassen schon ab 2025 keine Verbrenner-Autos mehr herein. Wäre das nicht zeitgemäß auch für deutsche Städte?

Lindner: Das erklären Sie mal einer Altenpflegerin, die täglich mit ihrem kleinen Auto vom Land in die Stadt fährt, um älteren Menschen zu helfen. Besser als dieses Verbot wäre es, Anreize zu schaffen, CO2 zu sparen. Wer CO2 ausstößt, kauft sich dafür einen Erlaubnisschein. Den Handel mit CO2-Erlaubnisscheinen sollten wir ergänzen um eine Klimadividende: Was der Staat einnimmt, gibt er als Scheck über das Finanzamt an seine Bürger zurück. Im Übrigen kann auch der alte VW Golf mit synthetischen Kraftstoffen klimafreundlich gefahren werden. Das müssen wir nur auch politisch zulassen und nicht einseitig bloß auf den batterieelektrischen Antrieb setzen.

Focus Online: Hat das Corona-Management die Blaupause geliefert für die Klimarettung, nach dem Motto: man hat ja gesehen was alles geht, wenn nur die Not groß genug ist?

Lindner: Wer das will, sollte es in den nächsten 120 Tagen bitte laut sagen, damit die Bürgerinnen und Bürger am 26. September darüber abstimmen können. Die Pandemiepolitik ist keine Blaupause, sondern ein abschreckendes Beispiel. Ältere Menschen wurden isoliert, Kinder konnten nicht in die Schule gehen, Frauen wurden in ihrem Bemühen um Gleichstellung um Jahre zurückgeworfen, es standen Arbeitsplätze auf dem Spiel – es kam zu enormen sozialen Härten. Das darf bei der Klimapolitik nicht passieren. Es geht auch anders.

Focus Online: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Lindner: Zwei große deutsche Konzerne schlagen nun vor, den größten Energieverbraucher Deutschlands, einen Chemiepark in Rheinland-Pfalz, klimaneutral zu machen. Und zwar, indem sie vor der Küste, ohne öffentliches Geld dafür zu wollen, Windkraft produzieren. Das Einzige, was sie sich wünschen, sind schnelle Genehmigungen und, dass die Fläche, die sie dafür brauchen, nicht erst nach 2030 zur Verfügung gestellt wird. Wem es ums Klima geht, der muss diese Wünsche erfüllen. Ein weiteres Beispiel: Airbus arbeitet an einem Null-Emissions-Flugzeug, das es ab 2035 geben soll. Mit Wasserstoff CO2-neutrale Flüge zu ermöglichen, kann uns das Reisen auch in Zukunft ermöglichen – und das ohne einseitig nur auf teure neue Bahnstrecken setzen zu müssen.

Focus Online: Wäre das Gegenstück zu einer Frauenquote in DAX-Vorständen eine Quote für Männer an Supermarkt-Kassen oder in Care-Berufen?

Lindner: Nein, aber mich besorgt, dass wir immer noch klassische Frauen- und Männerberufe haben. Das ist doch aus der Zeit gefallen und eine der großen Aufgaben unseres Bildungssystems. Mädchen können genauso Ingenieure werden, wie Jungs. Auf der anderen Seite muss jungen Männern nahegelegt werden, dass ein Job in sozialen Berufen, wie der Altenpflege zum großen persönlichen Gewinn werden kann.

Focus Online: Spricht die FDP denn gerne über Soziales?

Lindner: Enorm gerne sogar. Wir verstehen unter „Soziales“ aber nicht die große Umverteilung in unserem Land. Wir verstehen darunter die Realisierung von mehr Chancen für mehr Menschen. Für uns heißt Sozialpolitik vor allem Familien- und Bildungspolitik.

Focus Online: Also Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche?

Lindner: Nein, das gilt für alle Altersgruppen. Wir brauchen auch mehr Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt. Ich halte es für skandalös, dass der wahre Spitzensteuersatz in Deutschland 80 Prozent beträgt. Das ist nämlich das, was einem Hartz-IV-Empfänger abgezogen wird, wenn er mehr als 100 Euro im Minijob nebenbei verdient. So schaffen wir keine Anreize für die Menschen zurück in den Arbeitsmarkt zu finden.

Focus Online: Was ist mit Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen? Die steuern in den kommenden Jahren auf riesige Defizite zu. Sie versprechen keine Steuererhöhungen. Gilt das auch für die Sozialversicherungsbeiträge?

Lindner: Die von der CDU-geführten Regierungen haben in der Tat riesige Versprechungen und Standards während der Boom-Jahre beschlossen, die nicht nachhaltig finanziert sind. Viele Grüße an Jens Spahn, der seiner Generation da keinen guten Dienst erwiesen hat. Da kommt ein großer Kraftakt in der alternden Gesellschaft auf uns alle zu. Unser Ziel muss aber sein, dass die Quote von 40 Prozent nicht überschritten wird. Sonst würden wir damit die Geringverdiener belasten, die zwar wenig Lohnsteuer zahlen, aber immer die vollen Sozialabgaben tragen. Außerdem würde das den Faktor Arbeit in Deutschland verteuern und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit einschränken.

Focus Online: Wie sollen die finanziellen Löcher dann gestopft werden, wenn nicht über Leistungseinkürzungen?

Lindner: Wie bisher tritt ja der Staatshaushalt mit Steuermitteln ein. Das geht aber nicht bis in alle Ewigkeit mit steigendem Volumen. Mein Rat: Wir sollten zunächst auf zusätzlichen Staatskonsum, auf immer weitere Leistungen, Standards und Versprechungen verzichten, bis wir die bisherigen Verpflichtungen des Sozialstaats nachhaltig und ohne Überlastung der Enkel-Generationen finanziert haben. Das müsste leistbar sein, weil auch unser bisheriges Niveau weltweit zur Spitze zählt.

Focus Online: Hilft es, wenn die Menschen länger arbeiten?

Lindner: Viele wollen länger arbeiten. Nicht jeder kann es. Eine Individualisierung der Lebensarbeitszeit kann hier ein kluges Mittel sein. Beispielsweise könnten die Menschen je nach Beruf früher in Rente gehen, aber dafür neben der Rente noch ohne Abschläge in Teilzeit etwas verdienen.

 

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