LINDNER-Interview: Schäuble gönnt den Menschen keinen Cent

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Main-Post“ (Dienstag-Ausgabe) und „mainpost.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Michael Czygan und Andreas Kemper:

Frage: Herr Lindner, vor drei, vier Monaten, sah es so aus, als könnte die FDP angesichts der zunehmenden Polarisierung – hier die Kanzlerin Angela Merkel, dort der Herausforderer Martin Schulz – zerrieben werden. Doch es ist anders gekommen: Die FDP ist in zwei weiteren Landesregierungen vertreten, fährt auf Bundesebene teilweise zweistellige Umfrageergebnisse ein. Was ist passiert?

Lindner: Die Stimmungslage hat sich verändert. Es gibt eine wachsende Gruppe, die diese deutsche Status-Quo-Verliebtheit nicht gutheißt, diese Wohlstandshalluzination. Neidvoll schaut man nach Frankreich, wo Präsident Emanuel Macron die klügsten Köpfe sammelt und die Zukunftsthemen anpackt. So etwas wünschen sich viele Menschen auch hier in Deutschland. Sie verlangen von der Politik, nicht das Hier und Jetzt zu verwalten, sondern Neues zu wagen und Veränderungen anzuschieben. Das findet man bei uns.

Frage: Was wären denn die Zukunftsthemen?

Lindner: Erstens: Wir müssen Bildung als die wichtigste gesellschaftspolitische Aufgabe begreifen. Mehr Geld für Bildung, statt nur über die Erhöhung der Rüstungsausgaben zu sprechen. Zweitens: Wir hinken bei der Digitalisierung hinterher. Wir brauchen mehr Tempo beim Ausbau schneller Netze. Wir sollten die Staatsanteile an Post und Telekom verkaufen und das Geld für einen Masterplan zum Glasfaserausbau im ländlichen Raum einzusetzen. Dann würden wir Ende dieses Jahrzehnts im europäischen Vergleich vorne mitspielen. Drittens: Die Zeit ist reif dafür, den Menschen in der Mitte der Gesellschaft vom Facharbeiter bis zur Ingenieurin mehr von den Früchten ihrer Arbeit zu lassen. Wolfgang Schäuble gönnt den Menschen eigentlich keinen Cent. Jetzt stellt die Union 15 Milliarden Euro Entlastung in Aussicht. Wenn die schon diese Zahl nennen, dann ist da viel mehr drin – und nötig.

Frage: Aber das ist doch ein Widerspruch, zum einen Steuersenkungen zu versprechen, zum anderen Investitionen in Bildung in Digitalisierung zu fordern.

Lindner: Keinesfalls, denn der Finanzminister selbst rechnet mit 145 Milliarden Euro Mehreinnahmen im Jahr bis zum Ende der nächsten Wahlperiode. Wir wollen eine Entlastung von 35 bis 40 Milliarden Euro schaffen. Das ist geboten und problemlos machbar. Dem Staat blieben immer noch gigantische Einnahmen. Ich halte das für eine Frage der Gerechtigkeit. Denn immer mehr Menschen in der Mitte der Gesellschaft fragen, wieso erreiche ich nicht den Lebensstandard, den meine Eltern hatten, obwohl ich eine gute Ausbildung habe und fleißig bin. Wenn die breite Mittelschicht sagt, die Politik kümmert sich nicht um mich, dann haben Leute wie Trump eine Chance. Dazu darf es nicht kommen. Die deutsche Mittelschicht ist sehr duldsam, aber es gibt Belastungsgrenzen.

Frage: Wie kann die Steuerentlastung konkret aussehen. Die Abschaffung des Soli fordern mittlerweile alle.

Lindner: Unserer Meinung nach ist der Soli 2019 fällig, wenn der Solidarpakt II ausläuft. Das wäre nicht zuletzt auch ein Beitrag zur politischen Hygiene, denn alle Parteien haben das in den 90er Jahren immer wieder versprochen. Ich finde es enttäuschend, dass die Union kein Ziel nennt, bis wann der Soli ausgelaufen sein soll. Weiter bin ich dafür, die Stromsteuer abzusenken.

Frage: Kritiker sagen, davon profitierten vor allem Großverdiener und Unternehmer. Der Rentnerin hingegen bringe das maximal drei Euro pro Monat.

Lindner: Alle haben etwas davon. Es profitieren die Rentnerin und der Bafög-Empfänger genauso wie das Handwerk. Ich finde es etwas arrogant zu sagen, wenn das nur drei, vier Euro sind, ist das für die Rentnerin nichts. Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, Belastungen abzubauen. Dazu gehört auch, die Grunderwerbssteuer abzusenken. Wir haben in den Koalitionen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen Freibeträge von 250000 Euro pro Person beschlossen, wenn man eine selbstgenutzte Immobilie erwirbt. Denn ich bin in Sorge, dass die Eigentumsquote weiter zurückgeht. Im europäischen Ausland wohnen oft mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in der eigenen Immobilie, bei uns nicht mal 50 Prozent. Dabei sind Immobilien die beste Versicherung gegen Altersarmut.

Frage: Was wird eigentlich aus den Steuererleichterungen für Hoteliers? Sie stehen immerhin symbolisch für den Niedergang der FDP zwischen 2009 und 2013. Wollen sie die wieder zurücknehmen?

Lindner: Weder die Union noch die SPD oder die Grünen haben auch nur eine einzige Initiative ergriffen, das zu verändern. Jeden Tag gab es eine Chance. Kaum war die FDP besiegt, hat niemanden mehr das Thema interessiert. Es gab wohl gute Gründe dafür. Falls es eine Initiative zu einer grundlegenden Reform der Mehrwertsteuer gibt, kann man sich das natürlich ansehen.

Frage: Überraschend ist, dass die FDP die Forderung von Pharmazeuten nach einem Verbot von Versandapotheken nicht unterstützt.

Lindner: Ich bin ein großer Befürworter der freien Berufe. Stationäre Apotheken erfüllen eine wichtige Funktion. Deshalb sollte es, etwa für den Nachtdienst, höhere Honorare geben. Apotheker sollten auch die Möglichkeit bekommen, kontrolliert Cannabis abzugeben. Aber einen modernen Vertriebsweg wie den Versandhandel, den kann man nicht verbieten. Da muss man faire Rahmenbedingungen schaffen, etwa bei Mehrwertsteuer und Rabatten. Sonst müssen Sie auch Airbnb oder Uber verbieten. Das kann nicht funktionieren.

Frage: Aber die Apotheker sind doch ihre Klientel.

Lindner: Die FDP ist keine Partei, die sich für einzelne Interessen einsetzt. Wir sind die Partei aller freiheitsliebenden Menschen, unabhängig von Alter oder Beruf. Für uns steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt, dem wir ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen wollen. Ansonsten sorgen wir für faire Regeln, damit die Menschen möglichst viel Wahlfreiheit haben.

Frage: Apropos Eigenverantwortlichkeit. In Schleswig-Holstein plant eine Regierung mit FDP-Beteiligung einen Pilotversuch mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Das überrascht bei einer Partei, die sich sonst als Hüterin des freien Wettbewerbs versteht.

Lindner: Es ist ein Wunsch der Grünen gewesen, auch über die Modernisierung des Sozialstaats zu sprechen. Die FDP lehnt ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Es ist nicht finanzierbar und setzt falsche Anreize. In dieser Arbeitsgruppe wird deshalb auch unser Vorschlag Bürgergeld diskutiert.

Frage: Was ist der Unterschied?

Lindner: Dieses Bürgergeld wird nicht bedingungslos bezahlt. Die Voraussetzung ist, dass man in Ausbildung ist oder sich um Arbeit bemüht. Über das Finanzamt gibt es dann Unterstützung – ohne umfängliche Bürokratie, ohne würdelose Behördengänge. Dass wir in Laborsituationen darüber nachdenken, wie unser Land, wie auch unser Sozialstaat moderner werden kann, kann ich nur begrüßen. Das würde ich mir für den Bund auch wünschen.

Frage: Sie wollen auch die Zuverdienst-Möglichkeiten beispielsweise für Hartz IV-Empfänger verbessern. Auch dies sind ganz neue Töne von der FDP.

Lindner: Es ist für mich unverständlich, dass man es Menschen, die lange arbeitslos sind, nicht leichter macht, wieder ins Erwerbsleben zurückzukommen. Das geht nur schrittweise. Wer aber auf niedrigem Niveau eine Stunde länger arbeitet, der wird gegenwärtig bestraft, weil der Lohn mit den Sozialleistungen verrechnet wird. Manch einer hat dann netto weniger als zuvor. Das ist für mich die Perversion von Leistungsgerechtigkeit.

Frage: Herr Lindner, sind Sie eigentlich traurig, dass der Bundestag die Ehe für alle beschlossen hat. Immerhin ist Ihnen ein zentrales Wahlkampfthema verloren gegangen.

Lindner: Nein, es wäre ein wichtiges Thema gewesen, aber nicht das einzige wichtige Thema. Ich bin froh, dass die Entscheidung so gefallen ist. Das ist eine überfällige gesellschaftspolitische Modernisierung. Ich hätte mir allerdings eine ausführlichere, würdevollere Debatte gewünscht. Das Gesetz ist leider arg in die Mühlen der parteipolitischen Taktik geraten.

Frage: Bleibt die Frage, mit welcher Koalition sie alle ihre Vorschläge durchsetzen möchten. Eine Mehrheit wie für Macron ist doch eher unwahrscheinlich.

Lindner: Da werden sie Recht haben. Für eine absolute FDP-Mehrheit wird es nicht reichen. Aber wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, wenn man uns danach fragt und unser Profil in einer Koalition erkennbar ist. Wenn es jedoch nicht passt, mit wem auch immer, dann gehen wir in die Opposition.

Frage: Haben Sie Angst regieren zu müssen, nach den Erfahrungen der Koalition von 2009 bis 2013?

Lindner: Nein. Das sieht man doch an den Koalitionen auf Landesebene, die wir geräuschlos, professionell und kollegial verhandelt haben. Es geht darum, gute Ergebnisse fürs Land zu erzielen. Wenn das möglich ist, dann sollte man das auch machen. Aber wir sind kein billiger Mehrheitsbeschaffer. Das ging schon einmal schief.

Frage: Sie regieren mit der CDU in NRW, mit Grünen und CDU in Schleswig-Holstein, mit der SPD in Rheinland-Pfalz. Welches Bündnis bevorzugen Sie?

Lindner: Die FDP ist eine eigenständige Partei. Wir werden im Wahlkampf keine Koalitionsaussage treffen. Die Frage einer Koalitionsbeteiligung macht sich daran fest, ob wir hinreichend liberale Projekte mit dem Partner umsetzen können. Für uns geht es aber erst einmal darum, wieder in den Bundestag zu kommen.

Frage: Das klingt sehr bescheiden.

Lindner: Das ist die Wahrheit. Bis zum Wahlsonntag steht noch viel Arbeit an.

Frage: FDP-Chefs waren häufig Außenminister. Was ist der politische Traumjob von Christian Lindner?

Lindner: Ich bin mit Leib und Seele Parlamentarier.

Frage: Also eher Fraktionschef als Minister?

Lindner: Ich bewundere Ihre Hartnäckigkeit. Aber ich habe andere Sorgen, als meine Aufgaben nach der Wahl.

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