WISSING-Interview: Die Bundesregierung hat den Auftrag, ihrem Eid nachzukommen

Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing gab der „Welt“ (Mittwoch-Ausgabe) folgendes Interview. Die Fragen stellte Thorsten Jungholt:

Frage: An diesem Mittwoch startet die FDP mit der Dreikönigskundgebung in Stuttgart ins Jahr der Bundestagswahl – unter Pandemiebedingungen. Ihr Parteivorsitzender Christian Lindner wird im Staatstheater vor leeren Rängen eine Rede halten. Hätte man das Treffen nicht einfach absagen sollen?

Wissing: Die Veranstaltung hat eine große Tradition, sie geht zurück auf die deutsche Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert. Und in den schwierigen Zeiten der Pandemie, in denen es auf starke, verantwortungsvolle Bürger in einer lebendigen Demokratie ankommt, ist das Aufbruchsignal, das von Stuttgart aus in die gesamte Republik strahlen soll, besonders wichtig. Deshalb gilt: Ja, es wird ein anderes Format, einen anderen Ablauf geben. Aber unsere Botschaft und Inhalte werden wir trotzdem klar und deutlich vermitteln: Wir sind die Partei der Freiheit.

Frage: Die Christian Lindner diesmal in die Regierung führen möchte, wie er gerade sagte. Warum sollte der Wähler das nach dem Abbruch der Jamaika-Verhandlungen vor drei Jahren jetzt glauben?

Wissing: Die Herausforderungen unserer Zeit sind andere. Die Pandemie verändert Grundlegendes, und es ist ganz wichtig, dass jetzt die Stimme der marktwirtschaftlichen Vernunft und der Eigenverantwortung gestärkt wird. Die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Herausforderungen sind riesig. Auch die Frage, wie sich die Europäische Union entwickelt, hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik ab. In solchen Zeiten waren es in der Geschichte unseres Landes oft Liberale, die wichtige Weichen gestellt haben. Das wollen wir jetzt auch tun.

Frage: Welche Weichen meinen Sie?

Wissing: Deutschland entwickelt sich gerade zu einem Hochsteuerland. Wir sind träge geworden in vielen Bereichen, das Wirtschaftswachstum bleibt hinter den Möglichkeiten. Wir haben Aufholbedarf im Bereich der Digitalisierung. Europa hat seine Finanzprobleme noch nicht gelöst, und wir haben die Herkulesaufgabe der Transformation unserer gesamten Wirtschaft zu stemmen. Gleichzeitig wollen wir Klimaschutz betreiben und nachhaltiger werden. Das geht nur mit der Effizienz der Marktwirtschaft. Und außer der FDP traut sich in Deutschland niemand mehr, das so klar auszusprechen.

Frage: „Es ist ein gefährlicher Trugschluss, wenn Liberale den Eindruck erwecken, schon die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen sei Anbiederung an den Zeitgeist“, haben Ihre Parteifreunde Johannes Vogel und Konstantin Kuhle gerade in einem WELT-Gastbeitrag geschrieben. Empfinden Sie das als Kritik am Vorsitzenden und seinem Generalsekretär, zum Beispiel die Klimapolitik zu vernachlässigen?

Wissing: Es ist die natürliche Aufgabe von Parteien, sich zu aktuellen Themen und Entwicklungen zu positionieren und dazu Angebote zu entwickeln. Ein bewusstes Ignorieren dieses „Zeitgeistes“ wäre der direkte Weg in die gesellschaftliche Irrelevanz. Es ist wichtig, sich mit den Themen auseinanderzusetzen und eigene Positionen zu entwickeln. Falsch wäre es aber, auf eine kritische Analyse zu verzichten und dem Zeitgeist hinterherzuhecheln. Als Freie Demokraten sehen wir es als unsere Aufgabe an, zu allen relevanten Themen freiheitliche Politikangebote zu formulieren. Das hat die FDP übrigens zu allen Zeiten so gehandhabt.

Frage: Noch ist die Corona-Pandemie nicht unter Kontrolle. Was macht die Bundesregierung beim Impf-Management falsch?

Wissing: Es wurde offensichtlich zu wenig Impfstoff bestellt. Das ist erklärungsbedürftig und muss aufgearbeitet werden. Dass wir heute zusehen müssen, dass ein Impfstoff, der in Deutschland entwickelt und hergestellt wurde, in Ländern wie Israel in ausreichendem Maße zur Verfügung steht und bei uns nicht, ist mehr als enttäuschend. Die Vorbereitung auf die Impfung ist in Deutschland nicht gut gelaufen. Und es hilft Europa nicht, wenn die stärkste Volkswirtschaft länger als nötig im Lockdown verharrt. Denn von der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands wird es abhängen, wie die Europäische Union sich entwickelt.

Frage: Die Neurologin Frauke Zipp, Mitglied der Leopoldina und auch Beraterin der Landesregierung in Mainz, spricht von einem groben Versagen der Verantwortlichen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Wissing: Die Vorwürfe, die Frau Professor Zipp erhoben hat, sind gut begründet und deshalb äußerst ernst zu nehmen. Sie können von der Bundesregierung nicht einfach beiseite gewischt werden. Sie hat sehr konkrete Vorschläge gemacht, wie man besser hätte vorgehen können. Insofern teile ich die Kritik – und halte sie für berechtigt, umso mehr als diese auch seitens der Bundesregierung bislang nicht überzeugend widerlegt wurde.

Frage: Die EU verfolgte im Sommer die Strategie, ihre Bestellung auf mehrere Firmen zu verteilen, die jeweils angekündigt hatten, einen Impfstoff zu entwickeln. Das war doch nicht falsch, oder?

Wissing: Man hätte aber bei mehreren Firmen gleichzeitig mehr bestellen können, so wie Frau Professor Zipp das vorgeschlagen hat. Und niemand hat die Bundesrepublik Deutschland daran gehindert, sich zusätzlich zum europäischen Kontingent noch zusätzliche Dosen zu sichern. Biontech hat uns entsprechende Mengen angeboten. Insofern ist es mehr als bedauerlich, dass wir jetzt in diese Situation geraten sind.

Frage: Die Regierung rechtfertigt sich damit, dass sie sagt, man habe einen „Impf- Nationalismus“ verhindern wollen. Ein tragfähiges Argument?

Wissing: Nein, denn die Bundesregierung hat zunächst einmal den Auftrag, ihrem Eid nachzukommen und die Bevölkerung in Deutschland zu schützen. Dazu kann man neben der gemeinsamen Strategie auf europäischer Ebene zusätzliche Anstrengungen auf nationaler Ebene unternehmen. Das ist nicht antieuropäisch, sondern in dieser Situation wäre das geradezu geboten gewesen.

Frage: Sollte das EU-Parlament das Vorgehen der Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) näher beleuchten, womöglich gar durch einen Untersuchungsausschuss?

Wissing: Ich blicke zunächst einmal auf Berlin. Ein Untersuchungsausschuss ist immer dann berechtigt, wenn Fragen seitens der Regierung nicht umfassend beantwortet hat. Um Vertrauen zurückzugewinnen, sollte die Bundesregierung mit maximaler Transparenz alle Informationen rund um die Impfstoffbestellung offenlegen. Der Ball liegt im Moment im Feld der Bundesregierung. Im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit sollte die Bundesregierung umfassend aufklären, um so einen Untersuchungsausschuss überflüssig zu machen.

Frage: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagt, nicht die Impfstoff-Bestellung sei das Problem, sondern die Impfstoff-Produktion. Das sei der Flaschenhals.

Wissing: Wenn Herr Spahn recht hätte, dürfte es in Israel oder den USA keine größeren Impfstoffmengen geben. Die Tatsache, dass andere Länder ausreichend Impfstoff zur Verfügung haben, widerlegt das Argument des Gesundheitsministers.

Frage: Dann haben wir noch die Infrastruktur: Selbst die vorhandenen Dosen werden nur schleppend verimpft. Woran liegt das?

Wissing: An der Verfügbarkeit des Impfstoffs vor Ort. Jetzt muss so schnell wie möglich dafür gesorgt werden, dass das, was vorhanden ist, auch verimpft wird. Dafür sind die Gesundheitsminister der Länder zuständig.

Frage: Es läuft eine Debatte, ob Geimpfte Privilegien genießen sollten. Mal grundsätzlich: Ist eine Beendigung von Grundrechtseingriffe ein Privileg?

Wissing: Nein, Grundrechte sind keine Privilegien, sie stehen den Bürgerinnen und Bürgern von Geburt an zu. Insofern ist diese Debatte um Privilegien völlig deplatziert. Gleichzeitig muss man allerdings dafür sorgen, dass eine Gesellschaft zusammenhält. Wenn die einen ihre vollen Grundrechte ausüben können und andere nicht, ist das eine schwer auszuhaltende Situation. Gerade weil die Verfassung an dieser Stelle wenig politische Handlungsspielräume bietet, ist es so wichtig, dass so schnell wie möglich alle, die geimpft werden wollen, auch geimpft werden. Die Verzögerungen bei der Impfstoffbeschaffung drohen unsere Gesellschaft zu spalten.

Frage: Obwohl führende Regierungspolitiker wie Frau Merkel oder der bayerische Ministerpräsident Söder nach der Lesart der FDP viel falsch machen, sind ihre Beliebtheitswerte in der Bevölkerung doch ganz enorm. Wie erklären Sie sich das?

Wissing: Die Menschen wollen Antworten: Wie geht es weiter mit der Schule? Wie geht es weiter mit meinem Arbeitsplatz? Wie geht es weiter mit den Einschränkungen im Privaten und im sozialen oder kulturellen Bereich? In einer solchen Situation sind die Augen immer sehr stark auf die Regierungsspitzen gerichtet und die alternativen Politik-Angebote treten etwas in den Hintergrund. Das wird sich aber zu den Wahlen hin ändern. Ich glaube, dass wir in diesem Jahr eine extreme Abweichung der Wahlergebnisse zu den Umfragen erleben werden, weil die Bürger vor der Wahl über den Tag hinausblicken und sich fragen werden: Welche politischen Angebote sind die besten, um unser Land in die Zukunft zu führen? Die Pandemie hat dazu geführt, dass vielen in der Gesellschaft der Wert der Freiheit wieder sehr bewusst geworden ist. Das ist für die FDP als die Partei der Freiheit eine große Chance, die wir auf verantwortungsbewusste Weise nutzen wollen.

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