Antrag A2006: Tarifautonomie in der Sozialen Marktwirtschaft stärken – Verlässlichkeit für bestehende Tarifverträge unterstützen

Antragsteller/-in: Sachgebiet:
LV Thüringen A2 - Vorankommen durch eigene Leistung

Der Bundesparteitag möge beschließen:

Wir Freie Demokraten treten für die Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft ein, dass wirtschaftliche Prosperität Hand in Hand geht mit sozialen Fortschritten und ökologischer Nachhaltigkeit. Grundlage dafür ist eine freie, mittelständische Wettbewerbsordnung und eine verlässliche, planbare Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, welche die Förderung und die Stärkung des Marktes und des Wettbewerbs in den Mittelpunkt stellt.

Insbesondere die grundgesetzliche Koalitionsfreiheit (Tarifautonomie) gewährleistet neben der Freiheit, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Koalitionen) zu gründen, auch deren Betätigungsrecht – also das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen einschließlich der gemeinsamen Lohn- und Gehaltsfindung.

Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, den gesetzlichen Mindestlohn durch politische Gesetzgebung auf 12 Euro pro Stunde zu erhöhen, sehen wir unter diesem Gesichtspunkt sehr problematisch, weil mit dieser Maßnahme in über 190 Tarifverträge und über 570 Lohngruppen staatlich eingegriffen wird. Wir fordern die Faktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag auf, die Verlässlichkeit bestehender Tarifverträge zu unterstützen, da bereits zahlreiche Wirtschaftsbranchen in ihren Tarifverträgen bis 2023 beziehungsweise 2024 Anpassungspfade auf mindestens 12 Euro als untere Lohngruppe vorsehen. Auf die Gültigkeit und Anwendung dieser Lohnentwicklung in ihren jeweiligen Branchen vertrauen die Unternehmen mit Blick auf bereits abgeschlossene Preisverhandlungen und Teilnahmen an Ausschreibungen für Vorhaben in den Folgejahren.

Wir Freie Demokraten erwarten, dass die Stellung und die Arbeitsweise der Mindestlohnkommission respektiert und im Rahmen deren Geschäftsordnung wieder eine größere mittelfristige Planbarkeit für alle Beteiligten – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – ohne politische Eingriffe zukünftig sichergestellt wird, so wie es 2015 bei der Einführung zugesagt wurde.

Sofern an der im Koalitionsvertrag vereinbarten politischen Mindestlohnerhöhung festgehalten soll, fordern wir die Faktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag auf, dass sie im Rahmen der parlamentarischen Beratungen auf ein Wirksamwerden frühestens ab 1. Oktober 2023 hinwirkt, um die tarif- und wirtschaftspolitischen Konflikte so gering wie möglich zu halten. Dies halten wir auch mit Blick auf die Lohn-Preis-Spirale und dem Ziel einer zukünftigen, stärkeren Preisniveaustabilität für sachlich dringend geboten.

Begründung

Wir Freie Demokraten bekennen uns zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft. Eines der wichtigsten Grundsätze ist dabei, dass die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik für alle Beteiligten verlässlich und berechenbar ist.

Mit der Einführung des Mindestlohns 2015 sollte auch ein Vertrauenstatbestand geschaffen werden, um vor allem in Arbeitsbereichen ohne Tarifbindung einen Schutz vor sittenwidrigen Löhnen zu ermöglichen. Für damals bestehende Tarifverträge wurde im Sinne des Vertrauens- und Bestandsschutzes ein Übergangszeitraum von bis zu zwei Jahren gesetzlich normiert. Zugleich wurde durch die Politik und die damalige Bundesregierung stets betont, dass es zukünftig nicht die Politik ist, welche Löhne festlegt, sondern bei Erhöhungen sollen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam in der Mindestlohnkommission verständigen auf der Grundlage objektiver Kriterien wie beispielsweise der allgemeinen Lohnentwicklung.

Als die Bundesregierung Arbeitgeber, Gewerkschaften und Wissenschaft damit beauftragte, die Erhöhungsschritte in der Mindestlohnkommission festzulegen und die aktuelle Entwicklung der Tariflöhne in die Entscheidung einfließen zu lassen, hat die Regierung eine Systementscheidung getroffen. Diese Entscheidung sollte nicht leichtfertig nach einem Regierungswechsel geändert werden. Die außerplanmäßige politisch-festgelegte Erhöhung des Mindestlohnes ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Verfassungsrechtler wie Frank Schorkopf haben den aktuellen Vorschlag für ein Gesetz als verfassungswidrig einstuft. Die Arbeit der Mindestlohn-Kommission wäre hinfällig und auch in ihrer zukünftigen Arbeitsweise mit Blick auf die gemeinsame Vertrauenslegitimität stark belastet, da ein möglicher politischer Überbietungswettbewerb und staatliche Einflussnahme alle vier Jahre immer als Drohkulisse von Seiten der Gewerkschaften im Raum steht.

Mit der Entscheidung des Bundeskabinetts, die im Koalitionsvertrag ohne Umsetzungsdatum vereinbarte Mindestlohnerhöhung bereits zum 1. Oktober 2022 zu vollziehen, werden zahlreiche tarifpolitische Konflikte hervorgerufen und genau der Vertrauensschutz in den Bestand dieser Tarifverträge zerstört; vor allem 64 in Tarifverträge, die mitunter auch unter dem Gesichtspunkt einer pandemischen Lage nach fairen Tarifverhandlungen bereits in ihren tariflichen Anpassungspfaden mindestens 12 Euro Stundenlohn in den Jahren 2023 beziehungsweis 2024 vorsehen. Auch der Aspekt des Lohn- und Gehaltsabstandsgebotes und des innerbetrieblichen Lohn- und Gehaltsgefüges sollte in den möglichen Folgen einer solcher sprunghaften politischen Lohnentscheidung, fern der Koalitionsarithmetik, stärker berücksichtigt werden.

Der Wunsch nach schnelleren und höheren Lohnerhöhungen ist aus dem Blickwinkel der Gewerkschaften naturgemäß legitim und nachvollziehbar. Die Frage ist, ob es im Interesse der Tarifautonomie und dem Ziel der Preisniveaustabilität ist, den eingeschlagenen Weg so zu praktizieren. Eine Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 würde im Vergleich zum Zeitpunkt Dezember 2021 eine Erhöhung um 25 Prozent entsprechen und das in Zeiten einer Inflation von bereits nahezu über 5 Prozent.

Die Antragsteller sind der Überzeugung, dass der Grundsatz „Es kann nur verteilt werden, was auch erwirtschaftet wird“ nicht nur für öffentliche Haushalte gilt, sondern erst recht für jedes Unternehmen.

In der Konsequenz würde ein solch sprunghafter Lohnanstieg mit seinen Folgen für bestehende Tarifverträge und das restliche innerbetriebliche Lohngefüge weitere gegenwärtig nicht vollständig kalkulierbare Risiken hervorrufen und sich die Lohnerhöhungen in Preissteigerungen widerspiegeln und die Lohn-Preis-Spirale würde weiter an Fahrt gewinnen.

Die politisch festgelegte Mindestlohnerhöhung ist innerhalb der Bundesregierung mit Sicherheit nicht das Lieblingsthema der Freien Demokraten, trotzdem dürfen wir auch bei der Umsetzung von Koalitionsvorhaben nicht die Augen verschließen vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen in der Zukunft:

Wir müssen bestehende Tarifverträge in Ihrem Vertrauens- und Bestandsschutz verteidigen und tarifpolitische Konflikte durch ein späteres In-Kraft-Treten auf ein Minimum reduzieren. Dies würde auch dazu beitragen, die damit verbundenen Inflationsrisiken zu minimieren.

Es ist nicht die Aufgabe der Arbeitgeber als Tarifpartner jahrelange politische Fehlentwicklungen unter anderem in der Renten- und Energiepolitik einseitig auszugleichen. Und es ist auch nicht die einseitige Aufgabe der Arbeitgeber, im internationalen Vergleich niedrige Nettoeinkommen infolge einer hohen Steuer- und Abgabenlast, auszugleichen. Insbesondere dann, wenn der Staat durch politische Lohnerhöhungen genauso profitiert durch höhere Steuereinnahmen und höhere Einnahmen in die Sozialversicherungssystemen. Diese Form der politischen Opportunität steht genau im Wiederspruch zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft.

Bei aller Skepsis der Antragsteller gegenüber einer politisch-motivierten Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes, schlagen wir den 1. Oktober 2023 vor, um den oben dargelegten Punkten Rechnung zu tragen.

Eine alternative Überlegung könnte auch sein – wenn man das koalitionspolitische Ziel von 12 Euro starr im Blick hat – eine Erhöhung mit einem festgelegten Zwischenschritt umzusetzen. Auch dies würde dazu beitragen tarifpolitische und Inflations-Konflikte zu reduzieren.

Weitere Begründung erfolgt mündlich.