Antragsbuch für den 75. Ordentlichen Bundesparteitag

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Der Patient im Mittelpunkt – den Arzt im Blick

Der Patient im Mittelpunkt – den Arzt im Blick

Liberale Leitlinien für ein hochwertiges und innovatives Gesundheitssystem in einer Zeit grundlegender Transformation

Ein zentrales Problem der Gesundheitspolitik in Deutschland ist, dass im tagespolitischen Handeln der Blick dafür fehlt, wohin sich das gesamte Gesundheitssystem zukünftig entwickeln soll. Die Folge sind tagespolitische Einzellösungen, die sich im Rückblick gegenseitig oder sogar der gesamtheitlichen Problemlösung im Kontext der Transformation entgegenstehen. In der Hybris, staatlich Sachen im Detail zu regeln, schafft die Politik zugleich häufig übergriffige und überbordende Bürokratie und nimmt den Akteuren vor Ort den dringend benötigten Handlungsspielraum. Um dieses zentrale Problem der Gesundheitspolitik zu beheben, soll das nachstehende Papier das dringend benötigte Zielbild aus liberaler Perspektive beschreiben.

Die Gesundheitsversorgung steht deutschlandweit vor multidimensionalen Herausforderungen. Durch den demographischen Wandel sowie den wissenschaftlichen und medizintechnischen Fortschritt verändert sich der Versorgungsbedarf nachhaltig. Zeitgleich verstärkt sich auch der Fachkräftemangel zunehmend, während dringend benötigtes Personal in nicht bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen gebunden wird. Auf diese Herausforderungen wurden die bestehenden Strukturen nicht angepasst. Stattdessen wird seit Jahren am aktuellen Status quo auf Kosten der nächsten Generationen festgehalten. Für uns Liberale ist daher klar: Das Gesundheitssystem muss mit dem Ziel einer qualitativ hochwertigen, wohnortnahen sowie bedarfs- und generationsgerechten Gesundheitsversorgung neu ausgerichtet werden. Es braucht ein Gesundheitssystem, das den Fokus auf Qualität legt und die Eigenverantwortung der Patienten ernst nimmt. Durch eine Ordnungspolitik der langen Linien müssen den Akteuren vor Ort Handlungsspielräume für Innovationen und Kooperationen eröffnet werden. Für uns Liberale steht fest: Eine optimale Versorgung von Patienten gelingt nur als Teamleistung aller Akteure und Sektoren des Gesundheitswesens.

Generationsgerechte Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung sicherstellen

Bei einer alternden Bevölkerung führt ein Umlagesystem zu einer immer stärkeren Belastung der jüngeren Beitragszahler. Schon heute ist das Umlagesystem der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund einer deutlichen Finanzierungslücke nur durch massive Steuerzuschüsse finanzierbar. Diese im Wesentlichen über Schulden finanzierten Zuschüsse belasten zukünftige Generationen durch die notwendige Tilgung und den Zinszahlungen nachhaltig. Eine weitere Dynamisierung der Bundeszuschüsse oder eine weitere Beitragserhöhung zu Lasten der nächsten Generationen wäre unverantwortlich und unsolidarisch.

Stattdessen muss eine nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems sichergestellt werden. Dies ist durch die Einführung einer kapitalgedeckten Fondsfinanzierung als dritte Säule neben der Umlage- und Steuerfinanzierung erreichbar. In Anlehnung an beispielsweise dem norwegischen Staatsfonds, welcher politisch völlig unabhängig agiert, könnten die über den Fonds erwirtschaften Erträge einen Belastungsschutz künftiger Generationen darstellen und mittelfristig die Finanzierungslücke schließen. Der für den Fonds benötigte Kapitalstock könnte aus Steuermitteln, beispielsweise durch die Tabak- und Alkoholsteuer sowie einer neuen Cannabissteuer, aus Bundesanleihen, aus einer zeitlich begrenzten Ein-Prozent-Beitragsabgabe oder einer Kombination dieser herangezogen werden.

Zudem muss das aktuelle Leistungsangebot der Krankenkassen der Gesetzlichen Krankenversicherung kritisch überprüft werden. Entscheidend für die Vergütung einer Leistung durch die Gesetzliche Krankenversicherung muss zukünftig ein auf Evidenz basierter Nachweis der Wirksamkeit der Behandlung sein.

Eigenverantwortung der Patienten stärken

Zusätzlich zur erhöhten Inanspruchnahme von Ärzten kann eine hohe Anzahl an medizinisch nicht notwendigen Patientenkontakten und an nicht wahrgenommenen Arztterminen beobachtet werden. Allein in Thüringen wird ca. ein Viertel der Termine unentschuldigt nicht wahrgenommen. Dieser Umstand belastet das Gesundheitssystem enorm. Grade bei Fachärzten werden für einen Termin viel Fachpersonal und Equipment gebunden. Fällt dieser unerwartet aus, entsteht den Beteiligten ein erheblicher Schaden. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, ist es notwendig, die Patienten direkt an den entstandenen Kosten zu beteiligen.

Personalressourcen effizient und effektiv nutzen

Das deutsche Gesundheitssystem ist von einem stetig wachsenden Fachkräftemangel betroffen. Da der aktuelle Nachwuchs in den Gesundheitsberufen in den nächsten Jahren nicht ausreicht, um die größer werdenden Lücken zu füllen, muss das vorhandene Personal ressourcensparender eingesetzt werden. Dass beispielsweise die teuerste Personalressource im Gesundheitswesen, der Arzt, im aktuellen System häufig schon die erste Anlaufstelle darstellt, ist ein wesentlicher Systemfehler, welcher schnellstmöglich behoben werden muss. Der Personaleinsatz im Gesundheitswesen muss neu gedacht werden: Ein Patient soll stets nur die im Einzelfall medizinisch notwendige Handlungsebene in Anspruch nehmen.

Eine zentrale Rolle bei der Vermeidung von medizinisch nicht notwendigen Kontakten zwischen Ärzten und Patienten kommt der Patientensteuerung zu. Grade die bundesweit einheitliche Notdienstnummer (116117) in Kombination mit der Informationsplattform der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum ärztlichen Bereitschaftsdienst in Deutschland bieten optimale Voraussetzung für den Aufbau einer digitalen Ersteinschätzung. Hierfür kann die in Deutschland vom Zentralinstitut kassenärztliche Versorgung bereitgestellte Software „SmED“ als wesentlicher Ausgangspunkt dienen.

In vielen Fällen können nicht notwendige Inanspruchnahmen der limitierten medizinischen Ressourcen bei Patienten mit chronischen oder degenerativen Erkrankungen sowie bei Patienten mit komplexen gesundheitlichen Problemlagen durch ein aktives Case Management verhindert werden. In Anlehnung an das Modellprojekt „AGnES“ können bei ambulanten Ärzten angestellte Medizinische Fachangestellte mit der Fortbildung „Case Management in der ambulanten medizinischen Versorgung“ der Schlüssel sein, um das Potential des Case Management im Gesundheitssystem flächendeckend auszuschöpfen. Diese sollen unter anderem den individuellen Bedarf durch Assessment und Beratung erheben und die Patienten durch das Gesundheitssystem leiten können. Das notwendige Fortbildungscurriculum von der Bundesärztekammer gibt es hierfür bereits.

Zudem ist es nicht nur wichtig die Delegation und Substitution von ärztlichen Aufgaben auszuweiten, sondern auch den Direktzugang von Patienten zu den Heilberufen, wie in anderen Staaten bereits üblichen, einzuführen. Bereits heute verfügen Heilberufe über eine Vielzahl an Kenntnissen und Erfahrungen, die ein Ausweiten ihrer Kompetenzen rechtfertigen würden. Zudem zeigen Studien, dass beispielsweise ein Direktzugang in die Physiotherapie neben der Kostenreduzierung auch mit einer höheren Versorgungsqualität einhergeht. Um eine bestmögliche Versorgungsqualität sicherzustellen, sind sowohl der Qualifizierungsweg in die Heilberufe weiterzuentwickeln als auch Voreinschätzungsverfahren, sogenannte „Red-flag“-Systeme, einzuführen.

Mit der Reduzierung der Inanspruchnahme und Erbringung von Leistungen von Ärzten muss auch die Finanzierung entsprechend angepasst werden. Entgegen dem aktuellen System muss jede erbrachte Leistung auch gebührend vergütet werden. Auch im Gesundheitssystem muss sich Leistung lohnen.

Mit mehr Wettbewerb die Versorgungsqualität verbessern und gleichzeitig Kosten reduzieren

Um in Deutschland ein hochwertiges Gesundheitssystem sicherzustellen, muss eine hohe Versorgungsqualität Priorität haben. Hierzu müssen auf Bundesebene verbindliche Qualitätsvorgaben geschaffen werden, welche sich an dem „Outcome“ einer Behandlung orientieren. Durch einen verstärkten fairen Wettbewerb kann die neu gewonnene Leistungstransparenz zu einem Qualitätswettbewerb zum Benefit aller Patienten erfolgen. Mit einer Qualitätssteigerung verbindet sich nicht nur die Sicherstellung der Grundversorgung, sondern auch die berechtigte Erwartung der Patienten, an dem Innovationsprozess der modernen Medizin in der Fläche teilzuhaben.

Da ein solcher Qualitätswettbewerb nur mit entsprechendem Kapital erfolgen kann, sorgt eine Erhöhung der Kapitalmenge im Gesundheitssystem für eine bessere Versorgung. Folglich muss im Interesse einer höherwertigen Versorgung auch der Zufluss von arztfremdem Kapital deutlich erleichtert werden. Unnötige Hürden, wie die nicht zielführenden Gründungsvoraussetzungen für Medizinische Versorgungszentren (MVZ), müssen dringend beseitigt werden, denn grade im ländlichen Raum sorgen Investoren getragene MVZ-Strukturen für dringend benötigte Versorgungskapazitäten. Die Gründung von Einrichtungen verschiedener Träger würde zudem die Trägervielfalt weiter ausbauen. Eine ausgeprägte Trägervielfalt ist entscheidend für einen funktionierenden Wettbewerb im Gesundheitssystem.

Auch der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ist zu stärken. Einerseits hat dies dadurch zu erfolgen, dass der Gesamtkassenbeitrag zukünftig aus drei Säulen, dem allgemeinen Beitragssatz, dem Zusatzbeitrag und einem kassenindividuellen Verwaltungsbeitrag bestehen soll. Hierzu sollen die Krankenkassen ihre bisherigen Beiträge, um die eigenen Verwaltungskosten reduzieren und die Verwaltungskosten dann separat als kassenindividuellen Verwaltungsbeitrag ausweisen. Im Wettbewerb würde dies die Verwaltungskosten der Krankenkassen deutlich reduzieren, die Verwaltungsstrukturen effizienter und effektiver gestalten und somit die Kostenstrukturen nachhaltig verändern. Anderseits ist auch der in § 92 SGB V normierte „Erlaubnisvorbehalt“ zu streichen, da aktuell Entscheidungsprozesse zu lange dauern. Hierdurch sollen Krankenkassen zukünftig Behandlungsmethoden bis zur Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses auf Grundlage evidenzbasierter Studien individuelle Behandlungsmethoden für eine Testperiode in den Leistungskatalog aufnehmen können. Neben einem stärkeren Wettbewerb würde dies zudem die Einführung von Innovationen in das Gesundheitssystem deutlich anregen.

Bürokratie reduzieren und die Digitalisierung beschleunigen

Das deutsche Gesundheitssystem zeichnet sich durch eine überbordende Bürokratie aus. Davon sind alle Akteure des Gesundheitssystems betroffen. Dies kostet wertvolle Zeit und Ressourcen, die an andere Stelle fehlen. Der immense Bürokratieaufwand belastet das Gesundheitssystem enorm. Um das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen, ist ein Bürokratieabbau zwingend notwendig. Dies betrifft nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Krankenkassen und die Selbstverwaltung. Angesichts des gemeinsamen Interesses an einer hochwertigen Patientenversorgung muss die Misstrauenskultur und der damit verbundene bürokratische Aufwand aus dem Weg geräumt werden.

Auch durch die Digitalisierung kann der bürokratische Aufwand im Gesundheitssystem deutlich reduziert werden, beispielsweise durch den Ausbau von Schnittstellen und der Umsetzung des Once- Only-Prinzips, bei dem notwendige Daten nur einmalig an die Verwaltung gemeldet und anschließend bei Bedarf digital abgerufen und verarbeitet werden. Allgemein stellt die Digitalisierung eine große Chance für die medizinische Versorgung dar. Sie ermöglicht nicht nur die Telemedizin und die Verwendung von Gesundheitsdaten für die Gesundheits- und Versorgungsforschung, sondern auch innovative Versorgungskonzepte.

Grade in der Praxis vor Ort muss die Digitalisierungsstrategie jedoch fundamental geändert werden. Der Ansatz, durch Zwang einen Fortschritt zu erwirken, ist krachend gescheitert. Die zusätzlichen Belastungen durch die verpflichtende Einführung von ungeeigneten oder unfertigen Tools hat die Digitalisierung weiter ausgebremst. In Zukunft muss darauf geachtet werden, dass jedem die Vorteile der Digitalisierungsmaßnahme nicht nur bekannt sind, sondern dieser auch unmittelbar davon profitiert. Sobald dies der Fall ist, werden die Digitalisierungsmaßnahmen freiwillig umgesetzt.

Auch die Zulassung von digitalen Gesundheitsanwendungen und digitalen Medizinprodukten muss erheblich vereinfacht und beschleunigt werden. Behördliche Prüfungen, die über das Sicherstellen von geeigneten Schnittstellen und das Einhalten des Datenschutzes hinausgehen, verlangsamen den Zulassungsprozess zu Lasten der Patienten und der Innovatoren. Die Entscheidung darüber, ob eine digitale Anwendung oder ein digitales Medizinprodukt schlussendlich verwendet wird, ist den Gesundheitsakteuren vor Ort und dem Wettbewerb zu überlassen.

Ambulantisierung vorantreiben

Gemäß dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ stellt die ambulante Versorgung den Anker der Gesundheitsversorgung dar. Durch medizinisch-technischen Fortschritt kann mittlerweile ein wesentlicher Teil der bislang stationären Leistungen auch in ambulanten Strukturen erbracht werden. Bereits im Jahr 2022 wurde in einem Gutachten des IGES-Instituts die Erweiterung des Katalogs ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen gemäß § 115b SGB V im Krankenhaus (AOP-Katalogs) um knapp 2.500 zusätzliche OPS-Kodes empfohlen. Trotzdem werden in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten viele Behandlungen weiterhin stationär durchgeführt. Dies ist nicht nur teuer für die Beitragszahler, sondern auch nachteilig für die Patienten. Folglich müssen bei der Ambulantisierung endlich die Bremsen gelockert und notwendige Versorgungsstrukturen geschaffen werden. Eine wichtige Stellschraube ist hierfür auch die Vergütung. Diese muss zukünftig sektorengleich erfolgen.

Länder in Verantwortung nehmen

Die Länder tragen im stationären Bereich unter anderem nicht nur die Verantwortung für die Investitionskosten, sondern auch für die Krankenhausplanung. Neben einem riesigem Investitionsstau zeichnen sich die Länder aber grade in der Krankenhausplanung als besonders reformresistent aus. Dies muss sich in Zukunft ändern: Die Länder müssen ihrer gesetzlichen Verantwortung nachkommen!

Das bedeutet nicht nur die Krankenhausstruktur der veränderten Bedarfslage schnellstmöglich anzupassen, sondern grundsätzlich eine sektorenübergreifende Bedarfsplanung auf Basis von auf Versorgungsforschung basierenden Kriterien vorzunehmen und leistungsorientiert umzusetzen. Ziel muss es sein, zukünftig das gesamte Leistungsgeschehen in Leistungsbereiche und Leistungsgruppen einteilen zu können, um künftig ein bedarfsgerechtes Leistungsangebot fundiert planen zu können. Zum Aufbau eines standardisierten und systematischen Leistungscontrollings ist eine automatisierte und standardisierte Überwachung der Qualitätsvorgaben über eine digitale Plattform vorzusehen. Um eine sachgerechtere Verteilung der Innovationsmittel der Länder zu gewährleisten, ist die Investitionsfinanzierung an die Leistungsgruppen zu binden.

Gesundheitssystem krisenfest machen

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat Defizite des deutschen Gesundheitssystems bei der Krisenbewältigung deutlich gemacht. Das Gesundheitssystem muss angesichts der Folgen des Klimawandels, möglichen weiteren Pandemien und anderen Krisen reaktionsschneller und anpassungsfähiger, zudem im Krisenfall koordinierter werden. Für die Resilienz des Gesundheitssystems ist ein kontinuierlicher Vorbereitungs-, Lern- und Anpassungsprozess und die entsprechende Adjustierung der Strukturen notwendig.

Eine entscheidende Rolle muss dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zu kommen. Dieser muss weiter dezentral angesiedelt werden, um dem Bedarf der Bevölkerung vor Ort gerecht zu werden. Zeitgleich muss dieser künftig stärker koordiniert und durch eine zentrale Stelle stärker vernetzt und unterstützt werden. Die Aufgaben und Zuständigkeiten müssen in Zukunft klar geregelt werden und diese auch mit den entsprechenden Ressourcen unterlegt sein. Um eine hohe Qualität im Öffentlich Gesundheitsdienst zu gewährleisten, ist ein stärkeres Einbinden der Wissenschaft zwingend erforderlich.

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