Antragsbuch für den 76. Ordentlichen Bundesparteitag

BFA Justiz, Innen, Integration und Verbraucherschutz

Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union stärken – notfalls Fördermittel sperren

Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union stärken – notfalls Fördermittel sperren

Die Europäische Kommission berichtet jedes Jahr über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Union und in ihren Mitgliedstaaten. Seit 2022 spricht sie dabei auch Empfehlungen aus.

In ihren politischen Leitlinien für 2024–2029 setzt sich die EU-Kommission noch weitergehende Ziele. Sie will die Rechtsstaatsberichte nicht nur um wirtschaftliche Aspekte ergänzen (neue „Binnenmarktdimension“). Ihre Empfehlungen sollen zudem mit der Auszahlung von EU-Fördermitteln verknüpft werden. Der nächste mehrjährige Finanzrahmen soll dies unterstützen und Schutzvorkehrungen umfassen, damit „kein einziger Euro“ aus dem EU-Haushalt Rechtsstaatsverstößen zugutekommt. Das kündigt die Kommission in ihrer Mitteilung vom 11. Februar 2025 an. [1] Regierungen, die rechtstaatliche Grundsätze missachten, müssen also über Mahnungen hinaus auch mit finanziellen Einbußen rechnen, falls die Missstände gravierend sind und nicht abgestellt werden.

Wir Freien Demokraten begrüßen die wirtschaftliche Erweiterung des Rechtsstaatsberichts und die Möglichkeit von Mittelkürzungen bei schwerwiegenden Rechtsstaatsverstößen. Dies ist eine sinnvolle Ergänzung des europäischen Werkzeugkastens, um auf Missstände in Mitgliedstaaten zu reagieren – die bisherigen Verfahren haben sich nicht als effektiv erwiesen. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, die EU-Kommission bei der Verteidigung und Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen, gerade auch im Sinne von Unternehmen im Binnenmarkt. Allerdings lehnen wir eine rein politische Entscheidung über die Kürzung von Finanzmitteln ab. Wir fordern stattdessen, dass der Europäische Gerichtshof als unabhängige Instanz über entsprechende Maßnahmen auf Antrag der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments oder des Rates entscheidet.

[1] Der Weg zum nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen


Begründung:

I. Überblick

Im Juli 2024 hat die EU-Kommission ihren fünften Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU vorgelegt. [1] Der Bericht zeichnet ein überwiegend positives Bild. Tatsächlich gilt die EU international als Hochburg der Rechtsstaatlichkeit. Dennoch geraten demokratische Institutionen in den Krisen unserer Zeit – COVID-19 oder die russische Aggression gegen die Ukraine – nahezu überall unter Druck. In einigen Staaten setzen zudem autokratische Regierungen dem Rechtsstaat gefährlich zu. Gerichte bieten dort keine Gewähr mehr für Unabhängigkeit und genießen kaum noch Vertrauen. Beamte und Richter sind offensichtlich häufiger bestechlich als anderswo, und Medien sehen sich staatlicher Kontrolle und Einschüchterung ausgesetzt.

II. EU-Finanzmittel notfalls zurückzuhalten

Der aktuelle Bericht der Kommission zur Lage der Rechtsstaatlichkeit zeigt, dass Rechtsstaat und Demokratie auch in der EU nicht selbstverständlich sind. Sie sind immer wieder und überall Anfeindungen ausgesetzt. Die EU muss gefährlichen Entwicklungen entschieden entgegentreten und die Rechtsstaatlichkeit mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.

Als einschneidendes und letztes Mittel sieht Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union den Entzug von Stimmrechten vor. In der bisherigen Praxis (gegen Polen und Ungarn) erwies sich das Verfahren aber als zu schwerfällig. Es erfordert, dass die Mitgliedstaaten zunächst mit 4/5 Mehrheit die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Werte der Union erkennen, und anschließend unter Ausschluss des betroffenen Staates einstimmig eine derartige Verletzung feststellen können. Allerdings hat der Europäische Rat bis dato nicht gehandelt, obwohl in Polen und Ungarn solche Gefahren nicht zu übersehen waren. Das Artikel-7-Verfahren wird daher allgemein als stumpfes Schwert zur Bekämpfung von Rechtsstaatsgefahren angesehen.

Seit 2021 kann die EU darüber hinaus die Auszahlung von Fördermitteln aussetzen, wenn ein Mitgliedstaat wegen rechtsstaatlicher Defizite keine Gewähr mehr für deren ordnungsgemäße Verwendung bietet. Der Anspruch der Endempfänger auf die Zahlungen bleibt dabei grundsätzlich unberührt. Das regelt die sog. Konditionalität-Verordnung zum Schutz des EU-Haushalts, wonach der Rat auf Vorschlag der Kommission die erforderlichen Maßnahmen erlässt. Das Druckmittel kam bislang nur gegen Ungarn zum Einsatz. Das Land reagierte auf erste Warnungen mit halbherzigen Reformansätzen, welche die Aussetzung von Zahlungen aber nicht abwenden konnten.

Das EU-Budgetrecht kennt noch weitere „Konditionalitäten“, etwa bei der Kohäsions- oder Agrarpolitik. Auch Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds zur Bewältigung der Pandemiefolgen knüpft die EU an konkrete Reformzusagen der Mitgliedstaaten, welche auch rechtstaatliche Ziele verfolgen können.

Dass die Auszahlung von EU-Fördermitteln an die Einhaltung von EU-Recht geknüpft wird, ist richtig, gerade auch wenn es um grundlegende Werte wie die Rechtsstaatlichkeit geht. Dieses Prinzip der Konditionalität sollte noch breitere Anwendung finden, auch über den direkten Schutz des EU-Haushalts hinaus. Es trifft diejenigen, die den Rechtsstaat aushebeln, an empfindlicher Stelle. Allen bisherigen Vorschriften über die Konditionalität ist gemeinsam, dass es im politischen Ermessen der Kommission oder des Rates liegt, ob und inwieweit die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind. Die Pläne, künftig auch Empfehlungen aus den Rechtsstaatsberichten mit der Auszahlung von EU-Fördermitteln zu verknüpfen, in der ganzen Breite von Fragen der Justiz, der Medien, Gesetzgebung, Zivilgesellschaft bis zukünftig des gesamten Binnenmarktes, laufen auf einen noch viel umfassenderen politischen Einfluss hinaus, nach Lage der Dinge vor allem zugunsten der Kommission.

Den Rechtsstaat zu verteidigen, ist Aufgabe aller öffentlichen Institutionen. Dieser zeichnet sich aber gerade durch die überragende Funktion unabhängiger und unparteiischer Gerichte aus. Rechtsstaatsverstöße festzustellen und zu sanktionieren, sollte daher nicht politischem Ermessen, sondern einer unabhängigen Instanz übertragen werden, auf EU-Ebene dem Europäischen Gerichtshof.

Deswegen fordert die FDP, dass zukünftig auf Antrag eines EU-Gesetzgebungsorgans (also EU-Kommission, Europäischem Parlament oder Rat) der Europäische Gerichtshof über das Sperren von EU-Fördergeldern aufgrund von Rechtstaatsdefiziten entscheiden soll.

III. Defizite in allen Mitgliedstaaten, alarmierende Entwicklungen in einigen

In den meisten Mitgliedstaaten funktioniert der Rechtsstaat und hat die Kommission entsprechend wenig zu bemängeln. Gewissen Anlass zur Sorge geben häufig etwa die Prävention und Bekämpfung von Korruption, aber auch die Freiheit von Journalisten und Medien oder die Ernennung von Richtern höchster Gerichte. Auch Deutschland stellt die Kommission wiederholt ein gutes Zeugnis aus. Sie hebt insbesondere die Bemühungen hervor, das Bundesverfassungsgericht zu stärken. Die deutsche Justiz, so heißt es in ihrem Länderbericht 2024 [2] weiter, genießt hohes Vertrauen. Korruption wird wirksam bekämpft und kommt nur selten vor. Medienpluralismus und -freiheit sind gewährleistet. Gleichwohl weist die Kommission wie schon in ihren Vorjahresberichten auch auf einzelne Schwächen aus ihrer Sicht hin.

Demgegenüber weisen einige Mitgliedstaaten beunruhigende bis alarmierende Rechtsstaatsdefizite auf. Das gilt insbesondere für die Justiz. So beurteilen in zehn Mitgliedsstaaten mehr als 50 Prozent der Bürger die Justiz ihres Landes als schlecht oder sehr schlecht. Nach wie vor schwierig ist die Lage in Polen, auch wenn die Kommission das Land auf einem guten Weg zur „Wiederherstellung des Rechtsstaates“ sieht. Die Behörde sieht jetzt jedenfalls keine Gefahr mehr einer „schwerwiegenden Verletzung“ rechtsstaatlicher Prinzipien. Sie hat das Verfahren zum Entzug von Mitgliedsrechten (Artikel 7 des EU-Vertrages) daher eingestellt.

Für Aufsehen und Empörung bei der italienischen Regierung von Ministerpräsidentin Meloni sorgten kritische Anmerkungen des Länderberichts Italien zur Unabhängigkeit des staatlichen Rundfunks und zur Sicherheit von Journalisten.

Wachsende Sorgen bereiten ebenfalls die Entwicklungen in der Slowakei. Die Regierung Fico beschnitt unmittelbar nach ihrem Amtsantritt 2023 die Möglichkeiten der Justiz, Korruption zu verfolgen, darunter auch Fälle der früheren Fico-Regierung. Ihre Vertreter drohten hohen Richtern mit Entlassung und untergraben damit die Unabhängigkeit der Gerichte.

Der Länderbericht zu Ungarn ist besonders erschütternd. Danach manipuliert die Regierung Orbán nach wie vor die Zusammensetzung und Zuständigkeiten der Gerichte und lanciert in der von ihr kontrollierten Presse Schmierenkampagnen gegen Richter, Journalisten und Zivilgesellschaftsorganisationen. Immer neue Notstandsbefugnisse sowie unberechenbare Regulierungen führen zu Rechtsunsicherheit im Land. Ausländische Unternehmen werden gezielt diskriminiert und schikaniert. Im Jahr 2024 höhlte die Regierung den Rechtschutz gegen Verwaltungsmaßnahmen aus, ordnete massenhafte geheimdienstliche Überwachungen an (gerade auch von Journalisten) und ließ die chinesische Polizei in Ungarn gewähren. Aufgrund des Gesetzes zum Schutz der nationalen Souveränität nahm eine neue Behörde ihre Arbeit auf, die gegen jede Person oder Organisation vorgehen und berichten kann, welche ausländische Interessen vertritt oder vom Ausland finanziert wird.

[1] 2024 Rule of Law Report - European Commission

[2] https://commission.europa.eu/document/download/3d1a2f80-5989-4364-a9e6-d925d4a1c900_de?filename=17_1_58059_coun_chap_germany_de.pdf

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