LINDNER-Interview: Wettergegerbt aus der APO zurück

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Stern“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Andreas Hoidn-Borchers und Axel Vornbäumen:

Frage: Herr Lindner, wir möchten Sie bitten, zunächst nur mit Ja, Nein oder „egal“ zu antworten, okay? Erste Frage: Sollte Mesut Özil vor Länderspielen die Nationalhymne mitsingen?

Lindner: Ja.

Frage: Kann man in der Türkei noch Urlaub machen, wenn dort die Todesstrafe eingeführt wird?

Lindner: Ich würde es nicht machen. Nein.

Frage: Ist es legitim, dass sich ein Hamburger Luxushotel weigert, US-Präsident Trump während des G20-Treffens ein Zimmer zu vermieten?

Lindner: Ja. Das ist deren Freiheit. Ich würde es aber nicht machen.

Frage: Das Kölner Maritim hat am vergangenen Wochenende den AfD-Politiker Björn Höcke nicht aufgenommen.

Lindner: Auch deren freie Entscheidung. Aber nachvollziehbar.

Frage: Wir sind erstaunt. Nach unserer Vorstellung hätten Sie alle vier Fragen mit „egal“ beantworten müssen. Haben wir das mit der Liberalität falsch verstanden?

Lindner: Ja. Sie verwechseln Liberalität mit Beliebigkeit. Sie sind in guter Gesellschaft. Der Regierung geht es oft genauso. Die glauben auch, Liberalität bedeute: Anything goes. Tatsächlich ist das eine Wertordnung, für die man einstehen muss. Türkische Regierungsmitglieder können sich zum Beispiel nicht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit berufen, wenn sie zu Hause Meinungs- und Versammlungsfreiheit bekämpfen. Das sollten wir aus der Weimarer Republik gelernt haben.

Frage: Bei der Vorstellung des FDP-Wahlprogramms haben Sie kürzlich gesagt: Ich will Kanzler machen.

Lindner: Auf eine scherzhafte Frage, ob ich Kanzler werden wolle, habe ich geantwortet, ich wolle lieber Kanzler machen. Im Ernst, die Neubesinnung außerhalb des Bundestages hat uns Selbstbewusstsein in der Sache gebracht, aber auch eine gewisse Bescheidenheit.

Frage: Aus dem Satz spricht auf jeden Fall der Glaube, es im Herbst wieder in den Bundestag zu schaffen.

Lindner: Davon bin ich überzeugt. Ohne uns hätten die Leute nur die Wahl zwischen der Agenda 1995 von Martin Schulz und der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, die Angela Merkel verwaltet. Deutschland braucht aber eine Agenda 2030. Wir müssen entlasten, investieren, flexibilisieren, modernisieren. Die Menschen können Großartiges leisten. Wir wollen sie wieder machen lassen.

Frage: Was kriegt denn ein Wähler, wenn er bei der Bundestagswahl sein Kreuz bei der FDP macht? Noch mal vier Jahre Angela Merkel? Oder mal was Neues?

Lindner: Eine Partei, die ihm etwas zutraut. Und die deshalb sein Problemlöser und nicht sein Erziehungsberechtigter sein will. Welche Regierung er bekommt, muss ich offen lassen, denn ich weiß nicht, wen wir dafür als Partner gewinnen können.

Frage: Aber es gilt nach wie vor das Credo: im Zweifel eher mit den Schwarzen?

Lindner: Mit der Union gibt es die größeren Übereinstimmungen, ja. Die Unterschiede gegenüber der Merkel-CDU sind aber so groß, dass es bei einer schwarzgelben Mehrheit nicht automatisch auf eine Koalition hinausläuft. Bei der SPD hätte man noch die Grünen mit im Gepäck. Kurz und schlecht: Ich fürchte, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine Große Koalition regiert. Sollte es dazu kommen, darf es nicht nur diese Opposition von links geben, die so spannend wie eingeschlafene Füße war.

Frage: Die FDP ist nur an einer einzigen Landesregierung beteiligt, der Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz. Ist die so abschreckend, dass Sie ein solches Bündnis für Nordrhein-Westfalen nach den Wahlen am 14. Mai kategorisch ausschließen?

Lindner: In Rheinland-Pfalz regiert eine Neuauflage der viele Jahre erfolgreichen sozialliberalen Koalition – die Grünen tolerieren das. Dort gibt es mehr Lehrer, mehr Polizei, mehr Straßen, weniger Windkraft, weniger Bürokratie. In NRW ist es anders. Nachdem Hannelore Kraft das Land mit den Grünen in Grund und Boden regiert hat, muss es einen Wechsel geben.

Lindner: Und eine Regierung nur mit der SPD, wäre das Wechsel genug?

Lindner: Letzte Umfragen sehen SPD und CDU gleichauf. Vielleicht gibt es am Ende ganz andere Optionen? Eine sozialliberale Mehrheit besteht seit 2012. Frau Kraft wollte eine grün-rote Regierung. Die Wahl wird aus ihr keine andere Politikerin machen. Warum sollte sie mit einer tatendurstigen FDP regieren, wenn sie die CDU günstiger einkaufen kann als uns?

Frage: Und falls doch?

Lindner: Wenn die Fesseln für die wirtschaftliche Entwicklung gelöst werden, die grünideologische Schulpolitik beendet, der Rechtsstaat gestärkt und in Straßen und Glasfaser investiert wird? Das wäre eine Sensation.

Frage: Sie legen sich jedenfalls wahnsinnig dafür ins Zeug. Im FDP-Werbespot ziehen Sie sich sogar bis aufs Unterhemd aus, es ist quasi ein Ganzkörpereinsatz.

Lindner: Sie meinen mein Sport-Shirt? Der Spot basiert auf einer Reportage des Alltags im Wahlkampf. Noch mal, mir fehlt der Glaube an ein Umdenken bei Frau Kraft.

Frage: Deshalb wollen Sie auch nicht in Düsseldorf bleiben, sondern nach Berlin.

Lindner: Das ist seit 2013 klar. Das Comeback der Freien Demokraten musste aus den Ländern erfolgen. Ich kämpfe für einen Wechsel in Düsseldorf, will während der Regierungsbildung im Parlament sein, aber danach das Gewicht von NRW im Bund stärken.

Frage: Was versteht der Freidemokrat Lindner unter Gerechtigkeit?

Lindner: Ein Beispiel: Alle sprechen jetzt von einer Quote für Militär. Wie wäre es, wenn wir uns das Ziel setzen, dass wir bis 2025 bei den Bildungsausgaben aus dem Mittelfeld der OECD in die Spitzengruppe kommen? Das stärkt die Bildungsgerechtigkeit. Zweiter Bereich: die Senkung der Steuer- und Abgabenquote.

Frage: Echt jetzt?

Lindner: Überrascht Sie, aber wir halten daran fest. Das ist alles außer Kontrolle geraten. Familien kommen nicht voran, weil ihnen alles weggenommen wird. 60 Prozent, wenn man Abgaben, direkte und indirekte Steuern zusammenrechnet. Wir sind im Sozialismus angekommen. Wir wollen sie um mindestens 30 Milliarden Euro entlasten.

Frage: CSU-Chef Horst Seehofer sagt, einen Koalitionsvertrag unterschreibe er nur, wenn darin eine Obergrenze für Flüchtlinge festgelegt wird. Was ist Christian Lindners Obergrenzen-Punkt?

Lindner: Wir werden vor der Bundestagswahl zehn Projekte definieren, was mit der FDP geht und was nicht. Dazu gehört ein Neustart beim Euro, wo die Regeln auch in Griechenland wieder geachtet werden müssen. Eine gesteuerte Einwanderungspolitik. Eine Trendwende bei der Steuer- und Abgabenquote. Und eine Offensive für Bildung und neue Technologien.

Frage: Können wir Ihre potenziellen Koalitionspartner mal im Schnellcheck durchgehen? Was hat Martin Schulz, was Angela Merkel nicht hat?

Lindner: Leidenschaft. Jedenfalls rhetorisch. In der Sache ist er französisch, und wo das hinführt, sieht man ja: Erst kam Hollande ins Amt, dann wurde Gérard Depardieu Russe, und heute liegt die Wirtschaft in Trümmern.

Frage: Was hat Merkel, was Schulz nicht hat?

Lindner: Pragmatismus. Ob Herr Schulz den besitzt, weiß ich nicht. Frau Merkels Pragmatismus geht allerdings so weit, dass es ihr manchmal an roten Linien gebricht. Siehe ihr Schwenk in der Energiepolitik. Siehe ihre Haltung in der Flüchtlingspolitik.

Frage: Sie kennen Merkel gut aus der gemeinsamen Regierungszeit bis 2013. Was sind Ihre Lehren daraus?

Lindner: Ich will mit einem grundsätzlichen Missverständnis aufräumen. Ich lese oft, die FDP sinne auf Rache und es gäbe ein zerrüttetes Verhältnis zur CDU. Das ist Quatsch. Wissen Sie auch, warum?

Frage: Sagen Sie es uns.

Lindner: Weil wir nicht die CDU für den Niedergang der Freien Demokraten verantwortlich machen. Die Partei der Eigenverantwortung kann nicht andere für ihre Niederlagen verantwortlich machen! Meine Lehre ist jedenfalls: Wenn man etwas im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, muss man es mit Entschiedenheit verfolgen. Und wenn es der Partner plötzlich nicht mehr will.

Frage: Wie die Union die von der FDP verheißenen Steuersenkungen.

Lindner: Dann muss man im Zweifel Farewell sagen. Wir kommen aus der APO wettergegerbt zurück.

Frage: Wer von den beiden – Schulz, Merkel – ist Ihnen persönlich näher?

Lindner: Ich kenne Herrn Schulz noch nicht gut genug. Frau Merkel ist klug und witzig. Zur Person kommt kein böses Wort von mir.

Frage: Wie viel Veränderung braucht dieses Land?

Lindner: Fundamental viel. Wir leben in einer Wohlstandshalluzination. Gewissermaßen im Auge des Sturms. Die Weltlage ändert sich, die Demografie ändert sich, die Digitalisierung krempelt alles um. Wenn Deutschland weiter großartig sein will, muss es sich tief greifend verändern.

Frage: Hat eine seit zwölf Jahren regierende Kanzlerin den von Ihnen verlangten Veränderungswillen?

Lindner: Nein.

Frage: Wir sehen schon – Koalitionsverhandlungen mit der Merkel-CDU würden tatsächlich nicht einfach.

Lindner: So ist es. Aber unsere Aufgabe ist es nicht, Frau Merkel in ihrer Verehrung des Status quo zu bestärken. Die Mission der FDP ist es, Anwalt für Neues zu sein. Ich leide daran, dass sich nichts bewegt. Die Politik ignoriert die Digitalisierung und den Wunsch nach Selbstbestimmung. Es wird rumgedoktert, statt beim veralteten Bildungsföderalismus und im Sozialstaat große Probleme anzugehen.

Frage: In der Flüchtlingskrise hat die FDP gelegentlich den Eindruck einer AfD light vermittelt. Haben Sie sich manchmal morgens vor dem Spiegel geschämt?

Lindner: Nein. Ihr Eindruck täuscht. Wir wollen eine liberale Einwanderungspolitik. Verzicht auf Regeln und Ordnung ist das Gegenteil davon. Freiheit kann sich nur in einer Rechtsordnung entfalten. Die AfD kritisiert, dass Leute mit dunklem Haar kommen. Die FDP kritisiert, dass unser Rechtsstaat zeitweise die Kontrolle verloren hat.

Frage: Aber als Konkurrenz haben Sie die AfD schon empfunden.

Lindner: Politisch nicht, weil die an das Niedrigste im Menschen appellieren. Was das Medieninteresse angeht – gar keine Frage. Die AfD ist ein Medienphänomen, auch und gerade durch ihre Tabubrüche. Das ist vergleichbar mit einem Unfall auf der Autobahn; man will eigentlich nicht hinschauen, tut es dann aber doch. Die FDP dagegen tauscht nicht Ansehen gegen Aufsehen.

Frage: Hat sich das Problem AfD nach dem Parteitag vom vergangenen Wochenende erledigt?

Lindner: Für viele war die AfD der Hebel, um die eigene Unzufriedenheit mit „denen da oben“ auszudrücken. Das bleibt. Aber am Umgang untereinander kann man den Charakter jener Truppe erkennen. Die AfD ist eine destruktive Partei. Alexander Gauland sagt zudem, er wolle das Land behalten, das er von seinen Eltern geerbt hat. Ich will das Deutschland, das sich zu einer starken, weltoffenen und vielfältigen Nation entwickelt hat.

Frage: Würden Sie Frauke Petry in die FDP eintreten lassen?

Lindner: Petry wollte völkische Politik. Das ist ein autoritärer und kollektivistischer Begriff. Liberalismus ist immer am Einzelnen ausgerichtet. Deshalb kann niemand, der in der AfD ist, ein Liberaler sein.

Frage: Erschreckt Sie der Ausgang des ersten Wahlgangs in Frankreich? Oder sind die Stimmen für die rechtsextreme Marine Le Pen auch Signal für ein Bedürfnis nach nationaler Identität?

Lindner: Das Ergebnis von Herrn Macron ermutigt uns. Ihre These zu Le Pen wäre dagegen eine Verharmlosung. Die Dame steht nicht für einen wohlverstandenen europäisch eingebetteten Patriotismus, den ich auch habe. Sie steht für das 19. Jahrhundert, inklusive der Auflösung der Europäischen Union.

Frage: Gibt es Lehren, die aus dem Wahlergebnis für Deutschland zu ziehen sind?

Lindner: Nicht direkt. Aber warum sind so viele Deutschtürken keine Verfassungspatrioten? Das kann man nicht verordnen. Ich glaube aber, dass wir selbst ein Identitätsproblem haben, das dann zu Integrationsproblemen führt. Wir sollten beginnen, uns offensiver zu unserem großartigen liberalen Grundgesetz zu bekennen. Die Laschheit gegenüber Erdogan, das fortwährende Misstrauen der Politik gegenüber der Freiheit – das ist defensiv.

Frage: Muss nach dem Referendum in der Türkei und dem Abstimmungsverhalten der Deutschtürken noch mal über das Thema Doppelpass nachgedacht werden?

Lindner: Nicht als eine Lex Türkei. Aber unsere Zuwanderungspolitik benötigt eine Generalinventur. Der Status als Flüchtling darf nicht zu Daueraufenthalt führen. Wer bleibt, den müssen wir uns aussuchen. Da sollte das Ziel der Integration viel stärker die deutsche Staatsangehörigkeit sein. Wie in Kanada muss das gebunden sein an glasklare Anforderungen. Wer die erfüllt, sollte zwei Pässe haben dürfen. Aber in der dritten Generation kann sich das nicht mehr vererben.

Frage: Herr Lindner, was an Ihnen ist so gar nicht FDP? Die Jägerprüfung, die Sie gerade absolvieren?

Lindner: Wieso? Als Freie Demokraten ermuntern wir alle, ihre Persönlichkeit zu entfalten und ihren Leidenschaften nachzugehen. Ich stehe jedenfalls zu meinen. Die FDP hat sich von Ängstlichkeit befreit.

Frage: Und wenn ein Wähler sagt: Tut mir leid, FDP ist super, aber Jäger geht gar nicht.

Lindner: Da würde ich mit dem Naturschutz durch Jäger antworten. Wenn das nicht überzeugt, kann ich nichts machen. Manchmal schreiben Leute: „Ich würde Sie wählen, aber mit Ihrem Bart, das geht gar nicht.“ Dann eben nicht! Es wäre paradox, wenn ich als Vorsitzender der Partei der Freiheit aus Opportunismus meine persönliche Freiheit einschränken würde. Meine Haare gehören mir.

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