Antragsbuch für den 74. Ordentlichen Bundesparteitag

BFA Internationale Politik

Für ein starkes, demokratisches und prosperierendes Lateinamerika – Fünf Forderungen für eine Intensivierung der strategischen Zusammenarbeit

Für ein starkes, demokratisches und prosperierendes Lateinamerika – Fünf Forderungen für eine Intensivierung der strategischen Zusammenarbeit

In Lateinamerika leben mit über 640 Millionen Einwohnern knapp 10 Prozent der Weltbevölkerung, davon fast ein Drittel junge Menschen unter 20 Jahren. Keine andere Region der Welt hat derart starke sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten innerhalb ihrer selbst. Zudem ist Lateinamerika nach Nordamerika und Australien-Neuseeland die Region mit der stärksten Affinität zu Europa. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind seit vielen Jahrzehnten eng. Mit Brasilien und Mexiko hat die Region zwei wirtschaftliche Schwergewichte mit hoher Präsenz deutscher Unternehmen. Sie ist aber aufgrund des wirtschaftlichen Booms in Asien einerseits und der Sorge um die Entwicklung in der arabischen Welt und in Afrika mit ihren direkten Auswirkungen auf Europa andererseits aus dem Blickwinkel der deutschen und europäischen Politik geraten. Das darf nicht in eine Vernachlässigung der Region münden, gerade vor dem Hintergrund des enormen wirtschaftlichen und politischen Potentials einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Region. 

Jenes Potential wird derzeit jedoch durch politische Entwicklungen in etlichen Ländern Lateinamerikas geschmälert: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden von populistischen Autokraten von rechts wie links bedroht. Innenpolitisch sind viele lateinamerikanische Länder mit komplexen politischen Konfliktlagen und einer verstärkten Polarisierung konfrontiert. Hinzu kommen strukturelle Schwächen und ein durch Drogenkartelle verursachter fortschreitender Erosionsprozess der staatlichen Institutionen sowie der freiheitlichen Gesellschaften. Die Region spielt eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den Klimawandel und das Umweltbewusstsein wächst, aber in vielen Ländern reagieren die Regierungen empfindlich auf politischen Druck in der Umweltpolitik, wenn das mit eigenen Entwicklungszielen kollidiert. Ein dauerhaftes, tieferliegendes Problem ist zudem die soziale Ungleichheit, die größer ist als in anderen Regionen und deren Fortdauer die Legitimität demokratischer Regierungen und Institutionen unterminiert. Dementsprechend stehen viele Länder vor vielfältigen Herausforderungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungssektor, die sich seit der Pandemie verschärft haben.

Gleichzeitig, und nicht zufällig, wächst der Einfluss Russlands und vor allem Chinas stetig, sowohl wirtschaftlich wie auch politisch. Viele Regierungen Lateinamerikas betrachten dies pragmatisch als Gegengewicht zu den USA und deren traditioneller Dominanz in der Region, ohne die Risiken zu sehen. Einige begrüßen aber auch die Unterstützung für ihren autoritären oder, wie im Fall Venezuelas und Nicaraguas, diktatorischen Kurs, und ziehen die Zusammenarbeit mit China und Russland, die vermeintlich ohne Konditionen erfolgt, jener mit westlichen Akteuren vor. 

Angesichts der massiven Angriffe auf das Modell der liberalen Demokratie und der internationalen Ordnung vonseiten autoritärer Staaten wie China und Russland sowie der durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine offensichtlich gewordenen Notwendigkeit, unsere Handelsbeziehungen viel stärker unter Berücksichtigung des strategischen bzw. geopolitischen sowie geoökonomischen Kontextes zu betrachten, setzen wir Freie Demokraten uns dafür ein, den Beziehungen mit Lateinamerika höhere Priorität einzuräumen und diese mittels konkreter Schritte hin zu einer strategischen Partnerschaft zu vertiefen: 

1. Politisches Engagement in der Region verstärken 

Zuvörderst müssen Europa und Deutschland ihr Engagement in der lateinamerikanischen Region deutlich ausbauen. Dazu gehören regelmäßige Besuche und Gespräche auf oberster Ebene, ein engerer Dialog zu politischen Fragen, einschließlich zum Umgang mit den Diktaturen in der Region, und zu Fragen der Drogenkriminalität. Die Divergenzen in der Frage des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zeigen die politische Entfremdung zwischen beiden Kontinenten, die auch durch mangelnde regelmäßige Kommunikation auf politischer Ebene entstanden ist. Deswegen fordern wir die Bundesregierung mit großem Nachdruck auf, ihre Lateinamerika-Strategie aus dem Jahr 2010 zeitnah auf den Prüfstand zu stellen, sie zu aktualisieren und fortzuschreiben sowie in einem vernetzten Ansatz dauerhaft in ihrem Regierungshandeln proaktiv umzusetzen.

Auch die Verringerung von entwicklungspolitischen Instrumenten hat Interaktions- und Einflussmöglichkeiten beschränkt. Das entstehende Vakuum droht durch demokratie-averse (Entwicklungs-)Organisationen anderer Staaten zu deren Vorteil genutzt zu werden. Um dem entgegenzuwirken, sollte in Ergänzung zu den regelmäßigen Konsultationen auf politischer Ebene die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika intensiviert werden, die eigene Pfade sowohl zu Regierungsvertretern als auch zu Parlamentariern und der Zivilgesellschaft bahnt. Eine Möglichkeit liegt hier insbesondere in der wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit (WTZ) mit einzelnen Staaten Lateinamerikas, sei es beispielweise bei den Forschungsthemen Biodiversität oder den Rohstoff- und Geowissenschaften.

2. Rechtsstaatliche Institutionen fördern und Menschenrechte stärken

Neben autokratisch regierten Ländern wie Kuba und Venezuela, die Menschenrechte grundlegend missachten, ist die Schwäche rechtsstaatlicher Institutionen wie Justiz und Polizei ein tiefsitzendes Problem in vielen Ländern Lateinamerikas, das die sozialen Konflikte verschärft. Europa unterstützt bereits etliche Projekte im Rechtsstaatsbereich. Diese werden bislang jedoch eher nachrangig behandelt, liegt doch der Fokus der Unterstützung meist auf Themen, die in Europa politisch „im Trend“ liegen und daher prioritär sind, wie zum Beispiel Erneuerbare Energien und der Schutz des Regenwaldes. Dabei wird übersehen, dass ohne funktionierende rechtsstaatliche Institutionen und die Einhaltung der universellen Menschenrechte die Umsetzung wichtiger Politikfelder, gerade auch im Umweltbereich, defizitär bleiben wird. Beispiele hierfür sind etwa das Unvermögen, Waldflächen effektiv zu schützen oder Kompensationsleistungen für Umweltschäden bei Bergbauprojekten den Betroffenen vor Ort zukommen zu lassen. Das oft beklagte Thema Korruption ist eine direkte Folge dieser institutionellen Schwächen und wird nicht durch einzelne Antikorruptionsprogramme behoben werden können, sondern nur durch geduldige, langfristige gemeinsame Arbeit an diesem fundamentalen Problem innerhalb der Region. Wir fordern deshalb die Europäische Union auf, mit den Ländern Lateinamerikas über die Einrichtung einer umfassenden Rechtsstaatsinitiative zu verhandeln, die nach dem Muster der bewährten „Venedig-Kommission“, angesiedelt beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, Beratungsaufgaben auf den Gebieten Demokratie, Recht und „good governance“ übernimmt und die dabei auch offen ist für unkonventionelle Ansätze, Strategien und institutionelle Lösungen.

Deutschland genießt wegen seines wirtschaftlichen Erfolgs und seiner funktionierenden freiheitlichen, demokratischen Staatlichkeit in Lateinamerika große Wertschätzung. Das positiv konnotierte Deutschlandbild ist daher mit einem großen Vertrauensvorschub in der lateinamerikanischen Bevölkerung verbunden. Aus diesem Vertrauensbonus ergeben sich einzigartige Chancen für eine Vertiefung der Zusammenarbeit auf vielerlei Ebenen. Ein Beispiel hierfür ist die explizite Erwähnung Deutschlands als hilfeleistendes Land für den Prozess der Übergangsjustiz („transitional justice“) im Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der „FARC“-Guerillabewegung im Jahr 2016. Aufgrund eigener Erfahrungen in der Übergangsjustiz nach dem Ende des DDR-Unrechtsstaats wird Deutschland in diesem Bereich eine besondere Expertise attestiert. Über Kolumbien hinaus sollte Deutschland sich auch in anderen Staaten Lateinamerikas als beratender Partner für Übergangsjustiz als Bestandteil eines Prozesses hin zur Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen aktiv einbringen. Auch sollte in diesem Zusammenhang wieder an frühere, nicht weiterverfolgte Projekte des zivilmilitärischen Dialogs angeknüpft werden, die von der Bundesregierung insbesondere über die Politischen Stiftungen gefördert wurden, um das Primat der Politik gegenüber der Armeeführung zu verankern.

Wegen des zunehmenden Legitimationsdrucks des demokratischen Entwicklungsmodells durch Alternativmodelle (China, Russland) sollten Demokratisierungsentwicklungen, einschließlich zusätzlicher Anstrengungen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, stärker ins Zentrum der Zusammenarbeit rücken.

3. Wirtschafts- und Handelsbeziehungen intensivieren

Die Globalisierung hat weltweit eindeutig massiv zur Dynamisierung der Weltwirtschaft und Bekämpfung der Armut beigetragen. Auch Lateinamerika hat davon profitiert, jedoch vielfach weiterhin als Exporteur von Produkten der Landwirtschaft und des Bergbaus. Hier sollte Europa wesentlich offener gegenüber Lateinamerika sein, protektionistischen Kräften in Europa weniger Gehör geben und Handelsabkommen nicht mit zu vielen Auflagen aus anderen Politikfeldern wie der Landwirtschaft überfrachten. Was bei uns als Zeichen wohlmeinender Politik verkauft wird, kommt in Lateinamerika allzu oft als Erpressung und (paternalistische) Bevormundung an. Wir müssen die institutionelle Vertiefung unserer Handelsbeziehungen mit Lateinamerika als strategische Priorität begreifen und entsprechend größere Kompromissbereitschaft als bisher gegenüber den Anliegen Lateinamerikas zeigen. Dies ist insbesondere im geoökonomischen wie geopolitischen Kontext zu betrachten: China ist mittlerweile zum größten Handelspartner Südamerikas und zum zweitgrößten Handelspartner ganz Lateinamerikas nach den USA aufgestiegen. Wenn China weiter an Dominanz in der Region gewinnt, wird es mehr Kontrolle über strategische Ressourcen und Vermögenswerte in Lateinamerika erlangen und dadurch die eigene Verhandlungsposition zuungunsten Europas verschieben. Die EU und Deutschland müssen daher ein wohlverstandenes Eigeninteresse an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der gesamten Region, inklusive Bildungs- und Zukunftschancen für die dortigen Abermillionen junger Menschen, entwickeln.

Angesichts der Zunahme geopolitischer Risiken und starker Antiglobalisierungsstimmung sowie langfristiger Marktverschiebungen ist es von entscheidender Bedeutung, dass europäische Unternehmen besseren Zugang zu den lateinamerikanischen Märkten erhalten, um die Widerstandsfähigkeit ihrer Produktionskapazitäten durch Diversifizierung von nachhaltigen Lieferketten sowie von Absatzmärkten zu erhöhen.

Vor diesem Hintergrund muss das EU-Mercosur-Abkommen endlich ratifiziert werden. Es würde den zweitgrößten Wirtschaftsraum der Welt schaffen und bietet beiden Seiten Möglichkeiten für Wachstum, Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung. Zudem fördert es nachhaltige Entwicklung, stärkt Arbeitnehmerrechte, unterstützt die gemeinsame Bekämpfung des Klimawandels und verbessert Umwelt-, Natur- und Artenschutz. Darüber hinaus schafft das Abkommen belastbare Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Austausch. Gerade in der aktuellen Lage sind die Rohstoffreserven wie etwa die Gasvorkommen in Argentinien von strategischer Bedeutung für die Energieversorgungssicherheit in Europa.

Zu einer breiteren Diversifizierung von nachhaltigen Wertschöpfungsketten und Absatzmärkten für europäische Unternehmen können auch das modernisierte Assoziierungsabkommen mit Chile und das Freihandelsabkommen mit Mexiko bzw. die Verhandlungen zu einem EU-Freihandelsabkommen mit der „Alianza Pacífico“ als zweitem Freihandelsblock Lateinamerikas neben „Mercosur“ beitragen. Durch eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und eine Integration vorausschauender Verhandlungspositionen bei Zollschranken auf beiden Seiten sowie Anreizen für Umweltschutz seitens der Europäischen Union gegenüber Lateinamerika kann Attraktivität geschaffen werden, welche insbesondere China missen lässt.

4. Klimawandel gemeinsam bekämpfen

Gerade im Bereich der Umweltpolitik müssen Europa und Lateinamerika stärker zusammenarbeiten. Denn Lateinamerika spielt eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels. Der Amazonas-Urwald ist der größte CO2-Speicher des Planeten, an seiner Bewahrung haben wir daher alle ein vitales Interesse. Wenn Brasilien und die anderen Amazonas-Länder auf eine kommerzielle Nutzung verzichten sollen, müssen wir uns in noch stärkerem Maße mit Kompensationsinstrumenten befassen und in nachhaltige Wirtschaftskreisläufe massiv investieren. Es gilt, das Gefühl zu vermeiden, die reichen Länder wollten hier anderen Vorschriften machen. Lateinamerika besitzt große Vorräte an Bodenschätzen wie Lithium, die zur Energiewende benötigt werden, aber Bergbauprojekte sind politisch besonders sensibel und oft Quelle heftiger Konflikte. Hier gilt es, neue Modelle der Besteuerung von Bergbauprojekten zu finden, die eine Kompensation für die Menschen und Gemeinden vor Ort sicherstellen.

Gleichzeitig bietet eine vertiefte Zusammenarbeit in diesem Bereich vielen Chancen für Europa. So eignet sich Lateinamerika beispielsweise als Standort für die Produktion von grünem Wasserstoff sehr gut, allen voran Argentinien und Brasilien.

Darüber hinaus sollten die Maßnahmen zur Abschwächung der negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels – zum Beispiel stärker schwankende Energie- und Lebensmittelpreise – enger koordiniert werden, da globale Spillover-Effekte/Sekundäreffekte zu unerwünschten Entwicklungen in den Schwellenländern führen können. Eine engere Beziehung zu Lateinamerika kann auch in dieser Hinsicht hilfreich sein.

5. Kulturelle Beziehungen stärken

In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es eine hohe Affinität zu deutscher Kultur und Sprache, teils als Erbe von Migration, etwa in Südbrasilien, aber auch angesichts der Präsenz tausender deutscher Firmen, etwa in Mexiko. Umgekehrt wächst auch in Deutschland das Interesse an der spanischen Sprache. Wir sollten unsere Arbeit im Bereich des schulischen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausches weiter verstärken und somit zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen. Zu diesem Zweck eignen sich zum Beispiel Projektpraktika für junge Menschen, Studierende und Berufstätige – insbesondere solche, die auf Gegenseitigkeit beruhen –  wie etwa der „Freiwilligendienst Weltwärts“. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bietet für junge Erwachsene Tätigkeiten in gemeinnützigen Projekten im Bereich Bildung, Gesundheit, Umwelt, Kultur und Menschenrechte an, die weiter ausgebaut werden sollten.

Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sollte zudem ein stärkerer Fokus auf die gezielte Anziehung junger lateinamerikanischer Arbeitskräfte mit hohem Potential gelegt werden. Neben einem attraktiven Hochschulsystem spielen gezielte Kommunikationsagenden dabei ebenso eine Schlüsselrolle. Nach dem Vorbild des „Centro Alemán de Información para Latinoamérica“, welches als deutsche „Public Diplomacy“-Institution für das spanischsprachige Lateinamerika an der deutschen Botschaft in Mexiko-Stadt angesiedelt ist, sollte Deutschland daher auch ein „Centro Alemão de Informações para a América Latina“ für den portugiesischsprachigen Teil des Kontinents aufbauen. Ausgehend von diesem Zentrum können Informations- und Bildungskampagnen zentral koordiniert werden. Dies trägt nicht nur zur Stärkung eines generellen Bewusstseins über Deutschland in der lateinamerikanischen Bevölkerung bei, sondern bereitet darüber hinaus potentielle Fachkräfte mit praktischen Informationsangeboten auf das Leben in Deutschland vor. 

Begründung

Erfolgt mündlich.

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