DÜRR-Interview: Ich verstehe die Union nicht mehr
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Dürr gab der „Rheinischen Post“ (Donnerstagsausgabe) und „rp-online.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Birgit Marschall:
Frage: Herr Dürr, am Mittwoch war die neue Bundesregierung 100 Tage im Amt. Wie sieht Ihr Zeugnis aus?
Dürr: Friedrich Merz hatte einen echten Politikwechsel versprochen. Aber der ist nicht nur ausgeblieben, es ist noch schlimmer: Friedrich Merz fällt sogar noch hinter Angela Merkel zurück, was Mut zu Reformen und die wirtschaftliche Erneuerung des Landes angeht. Und die Uneinigkeit in der Koalition ist im Vergleich zur Ampel ja fast noch größer geworden. In der Außenpolitik macht der Kanzler einen guten Job, das will ich ihm ausdrücklich attestieren. Es wird aber nicht reichen, nur ein guter Außenkanzler zu sein.
Frage: Ähnlich wie bei der Ampel, an der Sie beteiligt waren, liegt die Wurzel des Übels bereits im Koalitionsvertrag. Denn der schließt Reformen etwa bei der Rente weitgehend aus.
Dürr: Im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht, man wolle für eine stabile Rente sorgen. Das tut man aber nur mit Reformen, die sofort kommen müssten. Nach 100 Tagen Schwarz-Rot habe ich aber leider den Eindruck, dass die Bundesregierung nicht mal ein Weiter-So anbietet. Es ist für die Bürger ein Teurer-So. Sie werden mit steigenden Lohnnebenkosten belastet und es wird offen über höhere Steuern diskutiert, ohne dass Reformen eingeleitet werden. Allein die Zinsen werden 2029 rund 70 Milliarden Euro ausmachen, mehr als doppelt so viel wie bisher. Die Regierung hat zwar viel mehr Geld zur Verfügung, kommt damit aber weniger aus als alle Regierungen vorher.
Frage: Was wird am Ende dabei herauskommen? Was befürchten Sie?
Dürr: Wir werden bis 2029 rund 850 Milliarden neue Schulden haben, ohne dass die notwendigen Reformen im Sozialsystem und in der staatlichen Verwaltung angegangen wurden. Ich fürchte, die vielen Hundert Milliarden Euro werden deshalb vor allem herausgeschmissenes Geld sein. Ich verstehe die Union nicht mehr. Sie macht komplett das Gegenteil dessen, was sie im Wahlkampf versprochen hatte. Die CDU lässt zum Beispiel die eigene Wirtschaftsministerin im Regen stehen oder widerspricht ihr sogar, obwohl sie oft zumindest versucht, Impulse zu setzen.
Frage: Was läuft falsch bei der CDU?
Dürr: Regierungsarbeit heißt, dass man miteinander sprechen muss. Das scheint aber nicht stattzufinden, wie sich am Fiasko bei der Verfassungsrichterwahl oder jetzt beim unionsinternen Streit über den Waffenstopp an Israel zeigt. Hier vollzieht Merz einen fundamentalen Kurswechsel, den auch viele in der Union zu Recht nicht nachvollziehen können.
Frage: War die FDP in der Ampelzeit bei der Schuldenbremse zu unbeweglich?
Dürr: Wir hatten bereits ein Sondervermögen für Verteidigung beschlossen. Man hätte sicherlich unseren Vorschlag eines Verteidigungsfonds, den wir im März eingebracht haben, früher diskutieren können. Ansonsten sehe ich das nicht. Der Investitionsanteil im Haushalt war mit uns in der Regierung ohne die jetzigen Verschuldungsmöglichkeiten sogar größer als heute. Die Schuldenbremse hat vor allem eine Schutzfunktion für die Bürger. Was ohne diesen Schutz passiert, sehen wir jetzt.
Frage: Können wir uns noch eine Legislaturperiode Zeit mit einer echten Rentenreform lassen?
Dürr: Nein. In Wahrheit hätte die Politik das schon vor Jahrzehnten machen müssen. Diese Regierung klebt auf große Probleme kleine, aber teure Pflaster, etwa mit dem Rentenpaket. Deutschland braucht stattdessen eine große und mutige Rentenreform. Vor allem die Einführung einer kapitalgedeckten Säule in der Rentenversicherung. Und sichere Renten gibt es nur dann, wenn die Wirtschaft wieder läuft, auch hier ist das Blatt der Merz-Regierung bisher leider leer.
Frage: Sind Sie dafür, das Rentenalter weiter anzuheben?
Dürr: Ich bin für einen flexiblen individuellen Renteneintritt. Wer länger arbeitet, hat dann auch mehr Rente. Aber vor allem braucht es die Kapitaldeckung, wie es Schweden, Norwegen und andere Länder vormachen.
Frage: Bis das wirkt, vergeht doch mindestens ein Jahrzehnt. Haben wir so viel Zeit?
Dürr: Natürlich braucht das seine Zeit. Aber der Anfang muss gemacht werden. Ohne die Renditen des Kapitalmarkts können wir die Rentenfinanzierung künftig nicht mehr sicherstellen.
Frage: Und sollen auch Beamte und Selbstständige in die Rentenversicherung einbezogen werden?
Dürr: Der Vorschlag von Frau Bas klingt zunächst gut. Aber es ist in Wahrheit ein Taschenspielertrick. Der durchschnittliche Selbstständige heute ist 50 Jahre alt, der durchschnittliche Arbeitnehmer ist 44. Das System würde also nicht demografiefester, indem man ausgerechnet mehr Ältere ins System holt, die dann noch früher Rentenansprüche haben.
Frage: Auch bei Gesundheit und Pflege steigen die Beitragssätze. Brauchen wir hier Leistungskürzungen?
Dürr: Wir brauchen auf jeden Fall mehr Vertrauen in die Eigenverantwortung der Menschen. Gesetzlich Krankenversicherte sollten zum Beispiel genauso wie privat Versicherte eine Beitragsrückerstattung bekommen können, wenn sie in einem Quartal nicht beim Arzt waren. Gleiches gilt für die Transparenz über die Arztkosten. Was spräche dagegen, dass jeder Versicherte eine Rechnung erhält, die dann automatisch von der Krankenkasse erstattet wird?
Frage: Sie haben eine parteiinterne Fehleranalyse vorgelegt, um zu zeigen, warum die FDP die Bundestagswahl verloren hat. Das liest sich in Teilen wie eine Abrechnung mit Ihrem Vorgänger Christian Lindner.
Dürr: Das sehe ich nicht so. Ich beziehe die Fehleranalyse auch auf mich selbst, schließlich war ich in der Ampelzeit der Fraktionschef. Auch ich habe Fehler gemacht, für die ich mich entschuldige. Einer der Fehler war, dass bereits im Ampel-Koalitionsvertrag große Reformprojekte nicht angelegt waren. Es war zwar richtig, durchzusetzen, dass es keine Steuererhöhungen, kein Abschaffen der Schuldenbremse und kein Tempolimit geben sollte. Aber das sind alles „Kein-Punkte“. Auf der einen Seite haben wir zu Recht Schlimmeres verhindert, auf der anderen Seite fehlten große Reformprojekte, etwa bei der Rente. Das wird sich künftig ändern. Die FDP muss eine moderne Reformpartei sein.
Frage: Eine Erkenntnis war auch, dass die FDP zu wenig Stammwähler bindet. Gab es an dieser Stelle unter Lindner eine Art Selbsttäuschung? Hat man sich zu sicher gewähnt?
Dürr: Wir wollen die Menschen, die uns 2017 und 2021 gewählt haben, wieder erreichen – egal aus welchen Motiven heraus sie uns wählten. Wir sind die einzige politische Kraft, die ein optimistisches Menschenbild, wirtschaftliche Vernunft und gesellschaftliche Freiheit miteinander verbindet, und wollen das wieder verkörpern. Deshalb muss das Ziel sein, dass die Wähler dieser beiden Wahlen unsere Stammwähler werden.
Frage: Stand die Ökonomie bei der FDP zu sehr im Vordergrund?
Dürr: Das sehe ich nicht so. Wir haben zum Beispiel in der Coronakrise eine vernünftige gesellschaftspolitische Position zwischen Eigenverantwortung und Freiheit einerseits und maßvollem staatlichen Handeln andererseits vertreten.
Frage: Was ist das Ziel für die nächste Bundestagswahl?
Dürr: Dass wir als die Partei wahrgenommen werden, die wieder für wirtschaftlichen Erfolg sorgt. Die Menschen dürstet es nach einer mutigen Reformpartei, und das werden wir sein. Es gibt Millionen, die sich mehr wirtschaftlichen Erfolg und persönliche Freiheit wünschen. Das sind unsere Wähler.
Frage: Welches Ziel verfolgen Sie mit Blick auf die Landtagswahlen im März?
Dürr: Unser Ziel ist, dass wir in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wieder Regierungsverantwortung tragen. Die FDP in Stuttgart kämpft gerade dafür, dass der Landtag verkleinert wird. Wenn man von Reformen redet, muss man auch in der Lage sein, bei sich selbst als Politiker den Gürtel enger zu schnallen. Es wäre zum Beispiel ein Zeichen, wenn der Bundeskanzler auf den mindestens 700 Millionen Euro teuren Erweiterungsbau des Kanzleramts verzichten würde.
Frage: Haben Sie noch Kontakt mit Ihrem Vorgänger Christian Lindner?
Dürr: Ja, selbstverständlich. Wir tauschen uns aus. Mein Auftrag ist nicht zurückzuschauen. Ich will Politik anders machen. Wir stellen die FDP neu auf und erarbeiten im Herbst ein neues Grundsatzprogramm.