DÜRR-Interview: Wer nichts leisten will, hat bei uns keine Zukunft
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Dürr gab dem „Tagespiegel“ (Samstagsausgabe) und „tagesspiegel.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Stefanie Witte und Jan Krüßmann:
Frage: Viele Menschen im Land wissen, wer Christian Lindner ist. Sie haben ihn Mitte Mai dieses Jahres als Chef der FDP abgelöst, sind drei Monate später aber vielen noch unbekannt. Wer ist Christian Dürr?
Dürr: Christian Dürr ist jemand, der sich aus tiefer Überzeugung und echter Leidenschaft seit vielen Jahren für die liberale Sache engagiert. Mich interessiert, was Menschen bewegt und welche Veränderungen sie sich wünschen.
Frage: Was ist das – die liberale Sache?
Dürr: Der Wesenskern des Liberalismus ist, zu wissen, dass Menschen unterschiedlich sind, ihre Individualität zu sehen. In der Politik gibt es die Tendenz, Menschen in Gruppen einzuteilen und zu vergleichen. Wir treten zurecht als Mahner auf, wenn das Kollektive zu sehr in den Fokus gerät – bei Corona war das ein großes Thema.
Frage: Damit die FDP wieder für mehr Menschen relevant und wählbar wird, braucht es einen erkennbaren Menschen an der Spitze. Wie wollen Sie erkennbarer werden?
Dürr: Sowohl die FDP als auch ich selbst, wir sind in einem Erneuerungsprozess. Wir haben jetzt knapp vier Jahre Regierungsverantwortung hinter uns und in dieser Zeit haben wir auch viele Fehler gemacht, die wir sehr schonungslos analysiert haben. Wir haben dazu über 3000 Menschen gefragt, was sie von der FDP erwarten. Sie wünschen sich eine Partei der wirtschaftlichen Eigenverantwortung und der gesellschaftspolitischen Freiheit. Bei unserem neuen Grundsatzprogramm wollen wir auch Bürgerinnen und Bürger beteiligen, die nicht Mitglied der FDP sind.
Frage: Retrospektiv war die FDP erfolgreich mit Personen, die die Wähler leidenschaftlich unterstützt oder abgelehnt haben: Lindner, Kubicki, Westerwelle, Möllemann. Sie alle haben dafür gesorgt, dass die FDP präsent bleibt. Über Sie ist immer wieder zu hören, sie seien zu nett. Manchmal fällt der Begriff Teflon…
Dürr: Manche schreiben sogar ich sei sympathisch. Aber im Ernst: Ich glaube, es gibt schlimmere Beschimpfungen als freundlich, nett und sympathisch.
Frage: Sind das die idealen Attribute eines Parteivorsitzenden?
Dürr: Ich glaube aus Selbstzweck unfreundlich und unsympathisch zu wirken, wäre ziemlicher Quatsch. Man kann durchaus freundlich sein und gleichzeitig eine klare politische Vorstellung haben. Ich bin durchaus willens und in der Lage, Profilentscheidungen für die FDP zu treffen.
Frage: Wo denn?
Dürr: Ich habe entschieden, dass die FDP in der Migrationspolitik einen Schwerpunkt setzen wird. Ich verbinde Einwanderungspolitik mit der Bereitschaft zu Leistung. Wer bei uns etwas leisten will, ist herzlich willkommen. Wer das nicht will, dem muss klar sein, dass er in Deutschland keine Zukunft haben wird. Es muss leichter sein, nach Deutschland zu kommen, um zu arbeiten, als nach Deutschland zu kommen, um nicht zu arbeiten.
Frage: Das würde die Union wohl ähnlich formulieren. Wofür braucht es da die FDP?
Dürr: Da will ich widersprechen. Die Union will einfach nur ein bisschen weniger Migration, aber das ist der falsche Blick auf die Dinge. Es braucht die richtige Migration. Ein bisschen weniger von dem Falschen ist immer noch falsch. In anderen Ländern, beispielsweise in Schweden, kommen drei von vier Menschen, die einwandern, in den Arbeitsmarkt. Das müssen wir auch schaffen. Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme ist gefährlich, Einwanderung in den Arbeitsmarkt dagegen unumgänglich, um die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren. Alle versprechen immer sichere Renten, aber offensichtlich ist keiner bereit, mutige Reformpolitik zu machen.
Frage: Die FDP schlägt eine Aktienrente vor. Wie wollen Sie damit aus einem defizitären umlagefinanzierten System ein Zukunftsträchtigeres machen? Aktien ändern nichts daran, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren müssen. Jetzt zusätzlich in Aktien zu investieren würde eine Doppelbelastung bedeuten.
Dürr: Wir haben mit der Aktienrente einen konkreten Vorschlag gemacht, wie man über mehrere Jahre — je früher, desto besser – Schritt für Schritt mehr Kapitaldeckung schafft. Sie haben vollkommen recht: Die deutsche Politik hätte das schon vor Jahrzehnten entscheiden müssen. Wir brauchen aber auch mehr Menschen im Arbeitsmarkt. Deswegen verbinde ich das Thema Einwanderungspolitik damit. Asylmigration muss die absolute Ausnahme sein. Viele Menschen, die sich für Europa interessieren, wollen in Wahrheit hier arbeiten. Aber es dauert Monate und Jahre, ein Arbeitsvisum zu bekommen. Aber das Wörtchen Asyl an der Grenze zu sagen, dauert nicht mal zwei Sekunden. Merken Sie den Unterschied?
Frage: Bis jemand einen positiven Asylbescheid hat, dauert es allerdings in der Regel auch Monate.
Dürr: Ja, aber dann ist man erst mal im Land. Beim Arbeitsvisum wartet man irgendwo auf der Welt auf einen Termin in einem deutschen Konsulat und wartet und wartet. Die gut Ausgebildeten warten dann nicht mehr, die gehen nach Kanada oder Australien. Man muss sich doch geradezu an den Kopf fassen, dass wir es denjenigen, die Leistung bringen wollen, so schwer machen.
Frage: Noch mal zurück zur Rente: Wie würden Sie denn nun die Übergangsphase von Umlagefinanzierung hin zu stärkerer Kapitaldeckung finanzieren? Sollen das die Beitragszahler leisten? Soll es steuerfinanziert sein?
Dürr: Wir haben jetzt schon mehr als 130 Milliarden Euro Steuerzuschuss, die jedes Jahr in die gesetzliche Rentenversicherung fließen. Nähmen wir nur einen Teil davon für die Kapitaldeckung, wäre schon viel gewonnen. Dafür müsste man aber aufhören immer mehr Versprechen zu machen, die nicht finanziert sind. Ob Rente mit 63 oder das neue Rentenpaket von Union und SPD: Wenn man das unterlassen würde, hätte man einen veritablen Anteil für den Einstieg in die Kapitaldeckung.
Frage: Wenn Sie einen Teil des Steuerzuschusses nehmen – wie sollen dann wiederum die kontinuierlichen Rentenzahlungen gedeckt werden?
Dürr: Die Frage zeigt ja das Dilemma, in dem wir stecken. Den Steuerzuschuss gibt es, weil Politiker in der Vergangenheit immer mehr versprochen, aber nichts finanziert haben. Schwarz-rot macht das ja auch gerade wieder. Wir dürfen aber nicht verpassten Chancen nachtrauern, sondern müssen das Beste aus der Lage machen, in der wir uns jetzt befinden. Die Regierung macht bisher das Gegenteil: Rekordschulden, Milliardenlöcher und die Investitionen steigen dabei nicht. Das zeigt: Es braucht dringend Reformen, vor allem beim wachsenden Sozialstaat. Die freiwerdenden Mittel müssen konsequent für den Aufbau eines kapitalgedeckten Rentensystems genutzt werden. Von Versprechungen kann kein Rentner leben sondern nur von solider Finanzierung des Systems.
Frage: Im vergangenen Dezember haben Sie gesagt, die drei zentralen Themen des FDP-Wahlkampfs seien Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft. Das hat offenbar nicht funktioniert. Hat der Spruch „It’s the economy, stupid“ ausgedient?
Dürr: Wirtschaftliche Fragen stehen weiter im Vordergrund. Wichtig ist, dass diese Fragen auf die konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen übersetzt werden. Das werden wir mit konkreten Konzepten erreichen.
Frage: Nämlich?
Dürr: Wenn ich sage, dass wir eine andere Wirtschaftspolitik in Deutschland brauchen, dann bedeutet das für mich, dass wir alles dafür tun, dass Arbeitsplätze im Land erhalten werden und neue entstehen. Auch, dass Menschen mehr übrighaben, um sich etwas aufbauen zu können. Ich frage jede Woche in den sozialen Medien ab, was die Menschen bewegt. Vor Kurzem hat mir eine alleinerziehende Mutter geschrieben, dass sie, obwohl sie arbeitet, nicht mehr in der Lage ist den Sommerurlaub für ihre Kinder und sich zu finanzieren. Nicht mal eine Woche ist drin. Wirtschaft klingt zunächst wie etwas Abstraktes. Aber da wird sie konkret. Die Sozialversicherungsbeiträge steigen kontinuierlich. Ich will, dass sich Menschen, die hart arbeiten, einen Sommerurlaub leisten können. Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft war wahrscheinlich zu abstrakt. Wir wollen konkreter werden. Es geht um den Sommerurlaub. Es geht um zu hohe Sozialversicherungsbeiträge. Es geht um die Rentenlücke. Es geht um Bildung.
Frage: Stichwort Bildung: Die FDP hat die letzte Bundesbildungsministerin gestellt, die dann letztlich an ihrem Umgang mit den Ländern und Skandalen im eigenen Haus gescheitert ist. Wieso sollten die Bürger der FDP auf dem Gebiet noch irgendetwas zutrauen?
Dürr: Wir haben das Startchancen-Programm durchgesetzt. Wir wollten einen ambitionierten Digitalpakt. Die Kultusminister der Bundesländer waren leider nicht so ambitioniert. Auf die bin ich teilweise stinksauer. Die rufen immer nur, dass andere etwas tun sollen. Dabei sind sie in der Verantwortung. Manche kommen mir vor wie Abteilungsleiter in einem schlecht geführten Baumarkt. Wenn der Kunde nach einer Schraube fragt, antworten sie, das sei nicht ihre Abteilung. Das muss endlich aufhören.
Frage: Was würden Sie konkret ändern?
Dürr: Der Staat muss vor allem gewährleisten, dass jedes Kind in der ersten Klasse einer deutschen Grundschule über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt. Dabei geht es um ein grundlegendes Versprechen, das eine freiheitliche Partei vertreten muss. Jeder Mensch sollte am Beginn des Lebens gleiche, faire Startbedingungen haben, unabhängig vom Elternhaus.
Frage: Sie hätten mit dem Bundesbildungsministerium und vielen jungen Bildungspolitikerinnen im Parlament die Chance gehabt, etwas zu verändern. Warum haben Sie in Sachen Sprachkenntnisse nichts getan?
Dürr: Im Nachhinein muss ich sagen: Wahrscheinlich hätte man mit den Kultusministern noch härter ins Gericht gehen müssen.
Frage: Wie denn? Frau Stark-Watzinger hatte da doch überhaupt kein Drohpotenzial.
Dürr: Ja, und deshalb brauchen wir mehr Drohpotenzial. Wenn sich eine Landesregierung nicht voll dem Ziel verschreibt, in der ersten Klasse Kinder mit ausreichenden Deutschkenntnissen sitzen zu haben, muss sie sich öffentlich dafür rechtfertigen. Eltern bekommen es doch mit, wenn ihre Kinder in die Schule kommen und die Hälfte der Klasse kein Deutsch spricht – und das eigene Kind dadurch zurückfällt. Wer in einer solchen Klasse ist, hat keinen ausreichenden Lernerfolg und wird nicht auf die weiterführende Schule vorbereitet. Bettina Stark-Watzinger hat schon versucht, sich dafür einzusetzen. Die heutige Bundesbildungsministerin Frau Prien hat sich hingegen massiv dagegen gewehrt.
Frage: Frau Prien gilt als Befürworterin von frühkindlicher Bildung und frühen Spracherwerbs. Was hat Frau Stark-Watzinger denn konkret getan?
Dürr: Das Start-Chancen-Programm hat lange gebraucht, bis es umgesetzt wurde, weil sich die Landesminister damit lange Zeit gelassen haben. Da kann man kritisieren, dass man den Kultusministern nicht die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Die hätten sich nicht hinter den Paragrafen der Zuständigkeit verstecken dürfen.
Frage: Aber nochmal: Wo hat sich Frau Stark-Watzinger denn nun konkret für den Spracherwerb eingesetzt?
Dürr: Sie hat flächendeckend Sprachtests für Kleinkinder vor der Einschulung gefordert. Und sie hat dafür gesorgt, dass es die inhaltliche Programmatik der FDP wird. Aber so etwas lernt man auch aus einer Wahlniederlage. Ich bin da jetzt viel deutlicher und klarer. Ich erwarte von allen 16 Kultusministern in Deutschland, dass sie sich genau darauf verständigen: In der ersten Klasse verfügt jedes Kind über ausreichend Deutschkenntnisse.
Frage: 23 Prozent der Erstwähler haben bei der Bundestagswahl 2021 FDP gewählt – ebenso viele die Grünen. Bei der letzten Bundestagswahl lagen Sie in dieser Gruppe bei fünf Prozent. Wo haben Sie die jungen Menschen verloren?
Dürr: Ich glaube, wir haben den Fehler gemacht, dass große Reformprojekte nicht im Zentrum des Regierungshandelns standen. Dabei wäre das nötig gewesen. Die FDP hat in der Regierung Steuererhöhungen und die Abschaffung der Schuldenbremse verhindert. Außerdem gibt es kein Tempolimit auf Autobahnen. Das ist damals mit Applaus nach den Sondierungen gefeiert worden. Alle haben gesagt, da habe sich die FDP durchgesetzt. Aber es fehlte eben ein großes Reformprojekt.
Frage: Beim Parteitag nach der Wahl hat Konstantin Kuhle, Mitglied im Bundesvorstand der FDP, gesagt, er möchte nicht Mitglied einer Protestpartei sein, die jedes Mal zusammenbricht, wenn sie mit der Realität in Kontakt kommen. Auch beim letzten Mal sind Sie nach Regierungsbeteiligung aus dem Bundestag geflogen. Können Sie einfach nicht regieren?
Dürr: Ich will aus einer solchen Wahlniederlage und aus den vergangenen Jahren ausdrücklich lernen. Unser zentraler Fehler war, dass wir kein großes Reformprojekt angestoßen haben. Deswegen will die FDP natürlich Verantwortung übernehmen, aber nicht als Selbstzweck. Ich will nicht in einer Regierung sein, um einen Dienstwagen zu haben. Ich will in Regierungsverantwortung etwas umsetzen.
Frage: Nächstes Jahr sind die Landtagswahlen im Stammland Baden-Württemberg, außerdem in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Dort könnten die letzten beiden FDP-Regierungsbeteiligungen enden. Wäre die FDP damit beerdigt?
Dürr: In solchen Kategorien denke ich nicht. Mein Fokus ist das konkrete Angebot einer liberalen Partei, die wirtschaftliche Vernunft und gesellschaftspolitische Freiheit verbindet. Danach sehnen sich viele Menschen in Deutschland. Dafür erarbeiten wir gerade ein Grundsatzprogramm und arbeiten an der Parteierneuerung. Ich will die FDP als moderne Reformkraft in Deutschland neu aufstellen.