HAHN-Gastbeitrag: Digitale Deregulierung: Jetzt oder nie!
Die stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Svenja Hahn MdEP schrieb für „FAZ.net“ folgenden Gastbeitrag:
Europa steht an einem Wendepunkt. In der kommenden Woche präsentiert die EU-Kommission ihre Vorschläge zur Vereinfachung ihrer Digital- und Datengesetze. Das ist die historische Chance, endlich unsere europäische Wirtschaft vom lähmenden Regulierungsballast zu befreien und eine stabile Grundlage für Innovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen.
Denn: Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat in den vergangenen sechs Jahren mit freundlicher Unterstützung von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grünen eine Regulierungswelle ungeahnten Ausmaßes auf die gesamte europäische Wirtschaft losgelassen. Das Ergebnis: Europäische Firmen fallen im globalen Wettbewerb immer weiter zurück, China und die USA gehen mit Tempo, Kapital und Pragmatismus voran.
Als Verhandlerin für den AI Act, dem ich letztlich nicht zustimmen konnte, und anderer Binnenmarktgesetze, habe ich die Entwicklung zur Überregulierung jahrelang angeprangert — an jedem Verhandlungstisch, aber auch immer wieder öffentlich, wie hier in der FAZ. Inzwischen kann selbst die Kommission als Verursacherin zahlreicher unnötiger und teilweise gegenläufiger Regelungen nicht mehr die Augen davor verschließen. Die Frage ist: Hat von der Leyens Kommission auch den Mut tatsächlich zurückzurudern?
Denn neben hohen Energiepreisen und einer enormen Steuer- und Abgabenlast ist diese exzessive Regulierung einer der Hauptgründe für die Schwäche des Wirtschaftsstandorts Europa. Die überbordende Digitalregulierung belastete nämlich nicht nur die Digitalbranche, sondern alle Unternehmen, die mit industrieller KI arbeiten und datenintensiv sind. Doch gerade diese industrielle KI birgt riesige Chancen für die Zukunft der EU.
In der nächsten Woche will die EU-Kommission mit dem sogenannten „Digital Omnibus“ ein Paket vorlegen, mit dem zahlreiche Digital- und Datengesetze vereinfacht werden sollen. Dazu zählen unter anderem der AI Act, der Data Governance Act und auch die Datenschutzgrundverordnung. Ziel ist es zum einen, Berichtspflichten zu vereinheitlichen, etwa beim Reporting von Cybersicherheits-Zwischenfällen. Zum anderen sollen zahlreiche Vereinfachungen der Gesetze für die Wirtschaft beschlossen werden.
Industrielle KI vom AI Act ausnehmen statt ausbremsen
Industrieunternehmen sind Kern der deutschen Wirtschaft, mit einem riesigen ungehobenem Potenzial für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Aber der aktuelle Regulierungsansatz bremst industrielle KI massiv aus; obwohl sie nicht mit Verbrauchern interagiert und ohnehin bereits durch sektorale Gesetze geregelt ist. Deshalb wäre der wichtigste Schritt, konsequent industrielle KI vom AI Act auszunehmen. Eine echte Chance, dass Europa vom Nachzügler zum KI-Schrittmacher wird.
Mut zu echter Entlastung statt Kosmetik
Einige der bisher bekannten Vorschläge der Kommission zur Vereinfachung des AI Acts haben durchaus Potenzial, Entwickler und Nutzer von innovativen Produkten und Dienstleistungen merklich zu entlasten: Wie die Ausweitung von Reallaboren, in denen neue KI-Anwendungen schon in der Entwicklungsphase unter realen Bedingungen getestet werden können. Auch die Ausweitung der KMU-Ausnahmen auf die größeren „Small Mid Cap“-Unternehmen, würde bereits vielen Unternehmen Erleichterungen bringen.
Bei diesem Fine-Tuning darf es nicht bleiben, vielmehr braucht Europa strukturelle Entlastung. Allen voran großzügigere Übergangsfristen, gekoppelt an verfügbare Standards. Es ist völlig utopisch von Unternehmen zu verlangen, unklare und komplexe Regeln umzusetzen, wenn noch keine Standards verfügbar sind. Die Kommission muss endlich aufhören, technische Konzepte wie Standards zu politisieren.
Ebenso notwendig ist die geplante Klarstellung des Zusammenspiels von AI Act und den zahlreichen anderen EU-Gesetzen. Denn selten hat so viel Prosa Einzug in ein Gesetz gehalten wie beim AI Act. So zum Beispiel die völlig unklare Pflicht für KI-Anwender, für umfassende KI-Bildung zu sorgen. Das ist jetzt die Chance für die Kommission, diese Aufgabe dorthin zu verlagern, wo sie hingehört: An die Mitgliedsstaaten und deren Bildungssysteme. Denn Unternehmen sind keine Bildungseinrichtungen und können nicht die Bildungsdefizite von Ländern ausgleichen. Erst recht nicht per Verordnung.
Alle Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, müssen ihren Beitrag leisten. Es wird Zeit, dass wir unseren Unternehmen Luft zum Atmen und zur Innovation verschaffen. Die schwarz-rote Bundesregierung muss national endlich die Situation hoher Energiepreise, Steuern und Abgaben angehen und auf europäischer Ebene eine umfassende Verschlankung der Regelungen und rigorose Abschaffung von Berichtspflichten und anderer Bürokratie unterstützen. Leider fordert Kanzler Merz Bürokratieabbau vor allem in Sonntagsreden, statt Mehrheiten dafür im Rat zu organisieren und seine sozialdemokratischen Koalitionspartner wehren sich derweil im Europäischen Parlament mit Händen und Füßen gegen jegliche Form des Bürokratieabbaus. Berlin und Brüssel dürfen die Chance des Digitalomnibus nicht verspielen. Damit die, die in Deutschland und Europa Neues schaffen wollen, endlich wieder eine faire Chance im globalen Wettbewerb haben.
Deregulierung stärkt Wirtschaft und Gesellschaft
Die Kommission muss einen mutigen Aufschlag machen, der Regulierung tatsächlich abbaut. Und sie darf sich dabei nicht von den Bedenkenträgern in den eigenen Reihen und im Europäischen Parlament abschrecken lassen, die für die aktuelle Situation verantwortlich sind. Bisher sind bereits erste Leaks der Vereinfachungsvorschläge im Umlauf. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese gezielt durchgestochen wurden, um einen Aufschrei der Regulierungs-Fans zu verursachen und damit das Vorhaben zu torpedieren.
Denn allein das Wort Deregulierung wird von vielen in Brüssel immer noch als Schimpfwort verstanden. Doch wer auf Innovation und Fortschritt mit Misstrauen und Angstmacherei reagiert, schafft einen gefährlichen Stillstand. Ein klarer, schlanker Rechtsrahmen hingegen schafft Transparenz und Vertrauen, für Unternehmen und Bürger. Wenn KI-Innovation in Europa im Keim erstickt wird, entstehen Lösungen woanders, nach anderen Regeln, nach anderen Werten. Wer unsere Werte und unsere liberale Demokratie schützen will, muss Innovation made in Europe ermöglichen, nicht verhindern.
Niemand braucht verklärte Industrieromantik, aber wir brauchen endlich Lust auf Fortschritt. Wenn Europa sich selbst weiter durch Überregulierung von technologischen Entwicklungen abhängt, gefährdet das unseren Wohlstand. Ohne Wirtschaftswachstum wackeln Millionen Arbeitsplätze, gibt es keine Investitionen, keine Chancen für eine selbstbestimmte Zukunft unser Bürger — und ultimativ keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir brauchen nicht weniger als einen Mindset-Wechsel: Weg von dem Glauben, man könnte mit immer mehr Regulierung und staatlicher Kontrolle gesellschaftlichen Zusammenhalt kreieren. Stattdessen müssen wir Deregulierung und Vertrauen in unsere Bürger als Chance zur Verteidigung unserer Wirtschaftskraft und unserer liberalen Demokratie begreifen.
Deregulierung ist kein Selbstzweck, sie ist Garant unseres Wohlstandsmodells und Schutz unserer liberalen Demokratie. Die Kommission muss jetzt liefern. Nicht kleinteilig, nicht halbherzig. Europa braucht jetzt den Mut loszulassen. Damit wir Freiheit, Fortschritt und wirtschaftliche Stärke sichern können.