KUBICKI-Kolumne: Der blamierte Staat
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Vor zehn Jahren hat sich etwas geändert in diesem Land, und das Symbol dieser Veränderung ist ein Satz der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir schaffen das!“. Anlässlich des kürzlich zurückliegenden Jubiläums dieses historisch gewordenen Satzes wurden unzählige Artikel geschrieben und Sendungen produziert, die auf die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zurückblicken und sich an einer Bilanz versuchen. Meine Bilanz – das ist wahrlich kein Geheimnis – fällt weniger positiv aus als die der Altkanzlerin, die seit einigen Monaten schon in den Deutungskampf um die Bewältigung dieser Krise eingestiegen ist. Ich hatte schon recht früh in jenen Jahren das Gefühl, dass der Staat in eine Überforderungssituation geraten war und mancher Irrweg beschritten wird – ein Gefühl, das sich rasch bestätigte. Etwa als bekannt wurde, dass in Kiel – wo ich damals Fraktionsvorsitzender im schleswig-holsteinischen Landtag wirkte – die Polizei angewiesen wurde, einfache Ladendiebstähle dann nicht zu verfolgen, wenn sie von Ausländern ohne Aufenthaltspapiere oder behördliche Registrierung begangen wurden. Ich war fassungslos und habe diesen Vorgang in aller Schärfe kommentiert und mit meiner damaligen Fraktion die Aufklärung so gut es ging vorangetrieben. Seitdem reihen sich die Episoden, die staatliche Überforderung jener Zeit auf die eine oder andere Weise illustrieren, immer weiter aneinander. Von den übrigen Herausforderungen, die der massenhafte Zuzug aus Ländern mit einer anderen Rechts- und Werteordnung mit sich bringt, soll hier nicht einmal die Rede sein. Das ist noch eine ganz andere Herausforderung.
Heute, zehn Jahre später, sollte man meinen, dass wenigstens administrativ alles wieder in geordneten Bahnen läuft. Das müsste es zumindest, wenn das Merkel’sche Versprechen irgendeine Bedeutung gehabt haben sollte und tatsächlich nicht nur so lakonisch-unbedeutend dahingeredet war, wie manche analysieren. Nun veröffentlichten RTL und „Stern“ just in dieser Woche und damit zehn Jahre und anderthalb Wochen nach dem berühmten „Wir schaffen das“ eine Recherche von enormer Sprengkraft. Im Raum steht nicht weniger als der zigtausendfache Betrug mit gefälschten Sprachzertifikaten als Grundlage für Aufenthaltstitel, Niederlassungserlaubnisse oder sogar Einbürgerungen – ein offensichtlich florierendes Geschäftsmodell, das jahrelang ohne Kenntnis der Behörden betrieben wurde. Ein Vorgang, der einiges erzählt. Nicht nur über die enorme kriminelle Energie, die hier am Werk ist, sondern auch über die Frage, ob wir es wirklich geschafft haben oder nicht längst geschafft sind.
Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wer mit Insidern im BAMF oder den Ausländerbehörden spricht, muss ein flaues Gefühl bekommen, wenn die Zustände in den Behörden in den Jahren 2015 bis 2017 geschildert werden: Die Anhörer wurden beim BAMF etwa blind – also ohne Einstellungsgespräch – eingestellt oder von anderen Behörden abgeordnet. Einen dreiwöchigen Crashkurs gab es dann noch. Formal durch Ausbildung oder Beruf zwar qualifiziert, aber nicht im Geringsten darauf vorbereitet, teilweise höchst traumatisierte Menschen zu befragen. Als Anwalt, der jahrzehntelang Zeugen befragt hat, kann ich sagen, dass zum Ergründen der Wahrheit mehr gehört als das Abarbeiten eines Fragenkatalogs. Es braucht Erfahrung, taktisches Geschick, Empathie und Härte – in unterschiedlichen Dosierungen in unterschiedlichen Situationen. Zumal die Befragungen in einem Asylverfahren wegen der Sprachbarriere extra herausfordernd sind.
Wer sagte, dass er Deutsch und Arabisch sprechen könne, hatte gute Chancen, als Behördendolmetscher eingestellt zu werden – egal, ob man vorher Kfz-Mechaniker oder echter Dolmetscher war. Von entsprechender Qualität müssen dann auch die Befragungen teilweise gewesen sein. Und auf diese Weise wurden formal die Verfahren nach dem Asylgesetz durchgezogen, damit rechtzeitig zur Bundestagswahl 2017 gesagt werden konnte: Wir haben es geschafft, der Antragsberg ist abgearbeitet. In Wahrheit war es die Simulation von ordentlichen Verwaltungsverfahren – ein Skandal für sich, nie richtig aufgearbeitet.
„Kubicki“, werden jetzt manche denken, „das sind doch olle Kamellen.“ Und nach zehn Jahren könnte ich diesen Gedanken verstehen, wenn die Geschichte damals geendet hätte. Leider stellt sich hier aber vielmehr die Frage, ob unser staatliches Gemeinwesen sich überhaupt von jenen Jahren wieder erholt hat. Die Frage muss wohl mit Nein beantwortet werden. Nicht nur, dass RTL und „Stern“ von einem internen Brandbrief in einer Ausländerbehörde berichten, in dem die Mitarbeiter eindringlich vor der kompletten Überforderung warnen. Denn die Wahrheit ist, dass ein derartiger Vorgang im Jahr 2025 mit einer einigermaßen modern ausgestatteten und organisierten Verwaltung nicht möglich sein darf.
Die Zertifikate sind mit einem QR-Code versehen, mit dem die Echtheit überprüft werden soll – so weit, so gut, so digital. Nun haben die Fälscher ihre Zertifikate auch mit einem solchen Code versehen, der auf eine falsche Website führt, die der des echten Zertifikate-Anbieters nachempfunden ist. Der Trick ist nicht einmal besonders clever oder innovativ, sondern so alt wie der Phishing-Betrug im Internet, bei dem Opfer auf nachgeahmte Seiten von Banken oder Ähnlichem geleitet werden, um dort die Daten abzugreifen. Man erkennt das zumeist schon an der Webadresse, die von der echten an irgendeiner Stelle abweicht. Das ist – man muss es so deutlich sagen – ein ziemlich primitives Verfahren. Zwei Probleme werden hier deutlich:
Das erste Problem ist, dass dieser primitive Betrug in einem noch nicht bekannten Ausmaß offensichtlich nicht aufgefallen ist.
Das zweite Problem ist, dass die Verifizierung selbst ziemlich primitiv ist und nicht den Stand der technischen Möglichkeiten widerspiegelt, derer sich eine Verwaltung einer Industrienation im Jahr 2025 bedienen sollte. Mit einer entsprechenden Verifizierungs-App auf den Geräten der Verwaltungsmitarbeiter wäre das etwa zu unterbinden. Es ist ja nicht so, dass dieser Staat keine Erfahrung damit hat. Während der Corona-Pandemie waren QR-Codes der ständige Begleiter von Millionen von Menschen, die beispielsweise in ein Restaurant wollten und ihren Impfstatus nachweisen mussten. Das erfolgte dann über die App „CovPassCheck“ des Robert Koch-Instituts. Ein Umleiten auf falsche Websites ist so ausgeschlossen. Über 15 Millionen Euro hat dieses System gekostet. Der Ehrgeiz, ungeimpfte Menschen vom sozialen Leben auszuschließen, war offensichtlich größer als der, nach Recht und Gesetz nicht berechtigte Menschen von einem Aufenthaltstitel oder einer deutschen Staatsbürgerschaft auszuschließen. Der Staat hat sich durch das Zulassen dieses massenhaften Betrugs leider blamiert.
Das zeigt, dass in der Verwaltung nach zehn Jahren noch immer gewaltige systemische Mängel vorherrschen – Mängel, die ohne große Zauberei abzustellen wären. Dass das überhaupt möglich war, ist ein riesiger Skandal. Mit jedem Tag, an dem wir dies und die weitere Überforderung weiter zulassen, vergrößern wir das Problem, das wir seit zehn Jahren vor uns herschieben. Es wäre eigentlich ein Gebot der Vernunft, alle Verfahren der letzten Jahre noch einmal auf Herz und Nieren zu überprüfen. Bei den Sprachzertifikaten ist das – wie geschildert – leicht machbar. Und es ist mir schleierhaft, wieso der sonst mit einem guten politischen Gespür ausgestattete Innenminister Dobrindt das nicht sofort initiiert.
Das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland wird sich an der Migration entscheiden. Zum einen, weil wir auf den Zuzug der Fleißigen und Ehrgeizigen, die auf Grundlage unserer Werteordnung dieses Land voranbringen wollen, angewiesen sind. Zum anderen, weil der Zuzug von Kriminellen und Feinden unserer Werteordnung eine manifeste Bedrohung für die freie und offene Gesellschaft ist. Wir werden beides nur meistern, wenn wir nach zehn Jahren „Wir schaffen das“ einen endgültigen Schlussstrich unter die Politik Merkels ziehen und das politisch verschuldete Laissez-faire in ausländerrechtlichen Fragen beenden. Es bedarf einer nationalen Kraftanstrengung, um die Fehler aufzuarbeiten und zu beseitigen. Jedes ausländerrechtliche Verfahren der letzten Jahre muss überprüft werden. In der Konsequenz müssen die gleichen Maßstäbe gelten, wie in anderen Bereichen: Wer in einer Prüfung täuscht, wird ausgeschlossen. Wer bei der Einbürgerung täuscht, darf nicht bleiben. Wir sind es unserem Land und der Zukunft künftiger Generationen schuldig. Deutschland muss attraktiv werden für die Fleißigen und Ehrgeizigen – und nicht für Betrüger mit billigen und alten Tricks.