KUBICKI-Kolumne: Die CDU und das „Wir schaffen das 2.0“
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Die deutsche Migrations- und Asyldebatte ist ein Trümmerfeld intellektueller Redlichkeit. Das gehört zum Vermächtnis von Angela Merkel und ihrer Weigerung, den Herausforderungen des Sommers 2015 planvoll und strategisch klug zu begegnen. Stattdessen plumpste das „Wir schaffen das“ in den Raum der öffentlichen Debatte, das zunächst die ganze Konzeptlosigkeit überdeckte. Die dadurch erreichte Revitalisierung der AfD führte schließlich dazu, dass weite Teile der etablierten Parteien und der Medien jedes Fordern nach Steuerung, Planung und Ordnung unter Generalverdacht der Fremdenfeindlichkeit stellten. Seitdem verläuft eine wesentliche Kampflinie in der Migrationsdebatte zwischen Gefühl und Verstand. Und neuerdings führt dieser Konflikt mitten in die Führungsebene von CDU und CSU – wobei dem Verstand dort wenig Raum bleibt.
Zunächst ist das ärgerlich laienhafte Agieren von Johann Wadephul zu nennen. Bei einem Besuch in Syrien ließ er sich angesichts der dortigen Verheerungen zu der Aussage hinreißen, dass in Deutschland lebende Bürgerkriegsflüchtlinge „kurzfristig“ nicht zurückkehren könnten. Das stand natürlich in krassem Widerspruch zur eigentlichen Unionslinie, die alsbaldige Abschiebungen nach Syrien vorsieht. Es spielt dabei keine Rolle, dass Wadephul sich auf freiwillige Rückkehrer bezog. Denn indem er sagte, dass dort „kaum Menschen richtig würdig leben“ könnten, beantwortete er die Frage nach Abschiebungen nach Syrien gleich mit. Wadephul ist Jurist und hätte das wissen müssen. Und noch mehr: Er ist Außenminister und damit verantwortlich für das Ministerium, das die Lageberichte zu den einzelnen Herkunftsstaaten verfasst – Berichte, die die Grundlage für Entscheidungen über Asyl und Flüchtlingsstatus in der Verwaltungspraxis bilden. In seinem Ministerium dürfte man sich verwundert die Augen gerieben haben, dass der Minister seine Einschätzung lieber bei einem Vor-Ort-Besuch aus dem Bauch heraus selbst klärte und verkündete. Zumal die tatsächliche Bewertung über die Zustände in Syrien regional sehr unterschiedlich ausfallen muss.
An dieser Stelle hätte man die Diskussion noch einfangen und in geordnete Bahnen lenken können – beispielsweise, indem man klarstellt, dass der subjektive Eindruck des Ministers kein Präjudiz für die Frage der Rückführungen ist. Doch Johann Wadephul ist stur und ging voll in die Offensive gegen die eigenen parteiinternen Kritiker. „Schlimmer als Deutschland 1945“ soll er ihnen in der Fraktionssitzung zur Situation in Syrien entgegengerufen haben. Das ist mehr als ein unbedachter historischer Vergleich: Mit „Deutschland 1945“ und dem, was dem voranging, bemüht er das große — wie Helmut Schmidt einst sagte -unverarbeitete Trauma unserer nationalen Identität. Mehr Eskalation in einer Debatte geht also fast nicht. Der Außenminister hat sich abermals von seinen Gefühlen leiten lassen. Dass diese Äußerungen aus der Sitzung quasi live an die Öffentlichkeit getragen wurden, ist nicht seine Schuld – andererseits ist er lange genug in der CDU, um das ahnen zu können.
Mit jeder dieser emotionalen Eskalationen entfernte sich die Debatte weiter vom Kern. Manches war voraussehbar, wie die lobenden Stimmen der Grünen für den ministerialen Mut zu Gefühlen. Dieser infantile Habitus gehört immerhin seit Annalena Baerbock zur außenpolitischen DNA von Bündnis 90/Die Grünen. Aber es folgten auch unerwartete Tiefpunkte, wie die Bemerkung des Zeit-Redakteurs Mark Schieritz, der auf X verkündete: „Deutschland 1945 war ein teilweise zerstörtes, aber funktionierendes und gut organisiertes Land. Syrien ist das nicht. Was ist daran so schwer zu verstehen?“ Nun ist die Zeit nicht irgendein Käseblatt, sondern eine der größten und traditionsreichsten Wochenzeitungen in diesem Land. Darum kann man über so etwas nicht einfach hinwegsehe: Das „gut funktionierende Land“ hatte in jener Zeit Millionen ausgebombte Menschen und Millionen von Heimatvertriebenen zu versorgen. Ebenfalls Millionen von „Displaced Persons“, darunter viele KZ-Überlebende und andere Opfer der NS-Barbarei, warteten in Tausenden von den Alliierten betriebenen Lagern darauf, irgendwo neu anfangen zu können. Und je mehr staatliche Organisation wieder zunahm, desto mehr Entrechtung und Willkür griff vor allem in der sowjetischen Besatzungszone um sich. Außer bei Johann Wadephul und Mark Schieritz sind diese Umstände – die weit mehr als zerstörte Häuser sind – in vielen deutschen Familien noch lebendig. Der Vergleich des Außenministers war daher nicht nur unbedacht, er war verantwortungslos: eine völlig vermeidbare emotionale Eskalation. Ebenso wie sein Verweis auf das Kruzifix im Fraktionssaal von CDU/CSU, den ich besser gar nicht kommentiere.
Eine weitere heftige Debatte hat der Außenminister zudem erreicht: die um seine eigene Zukunft. Geführt wohlgemerkt nicht aus der parlamentarischen oder außerparlamentarischen Opposition, sondern aus den eigenen Reihen. Wadephul sei intern angezählt und „auf Bewährung“, war überall zu lesen. Die Debatte ist der Union komplett entglitten. Das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit fliegt ihnen eine Migrationsdiskussion um die Ohren.
Und während manche noch Luftbilder von Dresden 1945 studieren und neben die von Aleppo 2025 halten, dämmert anderen längst, in welcher unbeantworteten Frage das eigentliche Problem liegt: Was wollen CDU und CSU in der Migration?
Da ist unbestritten der Wille des Bundeskanzlers und auch des Innenministers, die Merkel’sche Politik umzukehren. Man will der Bevölkerung signalisieren, dass sich etwas tut. Die Zurückweisungen an den Grenzen waren da ein erster Schritt. Aber bei der Frage, wie mit den bereits im Land befindlichen Menschen umzugehen ist, herrscht eine ähnliche Planlosigkeit, wie sie sich nicht nur im Konflikt Dobrindt/Wadephul zeigt. Denn auch Merz und Dobrindt müssen mehr liefern als ein umgedrehtes „Wir schaffen das“. Das diffuse „irgendwie muss es werden wie früher“ mag man noch durchgehen lassen. Aber was sind die politischen Leitlinien dieser Bundesregierung in dieser Frage? Die CDU/CSU begeht Merkels Fehler neu. Nur unter anderen Vorzeichen.
Das Vernachlässigen dieser Frage führt nämlich zu zwei emotional geprägten Lagern, die die Debatte dominieren. Zum einen diejenigen, die meinen, Deutschland hätte im Prinzip nie mehr das Recht, Menschen in ein vom Krieg gebeuteltes Land zurückzuschicken, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. Und zum anderen diejenigen, die glauben, Deutschland müsse jeden, der einst vor Krieg flüchtend nach Deutschland gekommen ist, nach dem Schweigen der Waffen wieder zurückschicken. Dabei ist beides gleich richtig und gleich falsch. Zunächst ist die geltende Rechtslage zu beachten: Wenn die Fluchtursache im Heimatland entfällt, entfällt auch die rechtliche Eigenschaft als Flüchtling. Allerdings ist die Frage, ob sie entfällt, keine für pauschale Betrachtungen – hier geht es um individuellen Schutz. Ist jemand wegen politischer Verfolgung durch Assad geflüchtet, wird die Antwort eher „ja“ lauten. Ist jemand wegen bekannter Homosexualität geflüchtet, wird sie eher „nein“ sein. Anders sieht es wiederum bei den subsidiär Schutzberechtigten aus, deren Fluchtgrund der Krieg selbst war.
Allerdings leitet nicht jeder aus Syrien Gekommene sein Aufenthaltsrecht aus dem Asyl- oder Flüchtlingsstatus ab. Mancher hat eine Beschäftigung aufgenommen, gut Deutsch gelernt und sich integriert. Das Recht gewährt hier die Möglichkeit des sogenannten „Spurwechsels“ in eine andere Form des legalen Aufenthalts in Deutschland. Wer sich rechtschaffen und erfolgreich in die Gesellschaft einbringt, sollte dafür eine Perspektive bekommen – selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, loyal zum deutschen Staat zu stehen und unsere freiheitlich-demokratischen Werte zu akzeptieren und zu verteidigen. Gleichzeitig darf die Möglichkeit des Spurwechsels nicht dazu führen, dass irreguläre Migration sich dadurch lohnt, dass vor Ort in den Spurwechsel eingetreten wird. Dass der Spurwechsel daher mit einer Stichtagsregelung versehen wurde, war richtig. Die Anerkennung der Realität darf nicht zur Perpetuierung von Fehlentwicklungen führen. In einer Welt, in der es keine irreguläre Migration nach Deutschland mehr gibt, kann die Stichtagsregelung auch fallen. Aber erst dann.
Die migrationspolitisch teilweise zurecht gescholtene Ampel hat in dieser Frage also immerhin einigermaßen klug agiert. Die Merz-CDU mäandert hingegen irgendwo zwischen „alle rein“ und „alle raus“ und weckt dadurch jeweils Erwartungen, die zwingend enttäuscht werden müssen.
Schließlich habe ich keinerlei Verständnis für die Priorisierung in der Debatte. Für mich steht außer Frage, dass Straftäter und Extremisten Deutschland sehr „kurzfristig“ verlassen müssen. Diese Frage wäre vor allem anderen zu bearbeiten gewesen.
Deutschland muss die Kraft finden, seine Migrationspolitik endlich in geordnete Bahnen zu lenken. Das bedeutet ein Ende der irregulären Migration sowie die trennscharfe Unterscheidung zwischen Asyl und Flüchtlingseigenschaft einerseits und gewollter Zuwanderung andererseits. Jeder Wechsel zwischen den Rechtskreisen darf zukünftig nur auf der Grundlage von Recht und Gesetz und unter klar definierten Voraussetzungen erfolgen. Wir müssen politisch einen Status erreichen, der die rechtliche Krücke der „Duldung“ weitgehend überflüssig macht.
Das wird niemals erreicht werden können, wenn die Bundesrepublik Deutschland Rückkehrpflichten im Zweifel nicht auch durchsetzt. Nicht mehr und nicht weniger erwartet ein Großteil der Bevölkerung – und das beinhaltet abstrakt kein pauschales Urteil über „die“ Syrer. Und deshalb braucht es keine irreführenden Bauchgefühl-Debatten, die uns nur in die intellektuellen Abgründe des sogenannten Establishments führen. Deutschland muss sagen, was es will. Ich habe Zweifel, dass es mit dieser Bundesregierung gelingen kann.