KUBICKI-Kolumne: Die Neujahrsansprache, die der Kanzler halten müsste
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Am Mittwoch wird der Bundeskanzler das Volk mit seiner ersten Neujahrsansprache beglücken. Meine Erwartungen an diese Ansprache halten sich ehrlich gesagt in engen Grenzen. Da ich das Jahr 2025 für meine Leserinnen und Leser ungern mit einer Enttäuschung enden lassen möchte, stelle ich im Folgenden eine Neujahrsansprache bereit, die Friedrich Merz zwar nicht halten wird, aber halten könnte und sollte.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
der Jahreswechsel ist am Ende des Tages nur ein Datum, aber die kalendarische Zäsur wird immer wieder gerne genutzt, um einmal „reinen Tisch“ zu machen, um unbelastet in das neue Jahr zu starten. Unbelastet – so viel gleich vorweg – wird das neue Jahr nicht starten können. Aber trotzdem steht unser Land an einem Punkt in der Geschichte, der nicht nur nach einem Moment schonungsloser Ehrlichkeit verlangt, sondern geradezu danach schreit.
Unser Land ist in einer schweren Krise. Es ist sogar die schwerste wirtschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Und dafür gibt es Ursachen. Gleichzeitig steckt die Politik in einer schweren Vertrauenskrise, die ebenfalls historisch ist. Auch dafür gibt es Ursachen. Diesen Befund würden wahrscheinlich fast alle im politischen Berlin unterschreiben. Aber niemand benennt schonungslos genug, wer der Adressat dieses Befundes ist. Denn, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es sind nicht Sie!
Misstrauen Sie allen, die an die Beschreibung der schwierigen Situation Deutschlands immer nur die Appelle des „Zusammenrückens“, des „Unterhakens“ oder des Entbehrens anfügen. Das stellt das Verursacherprinzip nämlich auf den Kopf. Verursacher sind nicht die Bürgerinnen und Bürger.
Die Wahrheit ist: Der Staat hat an einigen Stellen aufgehört so zu funktionieren wie er soll. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, kaschiert er dieses Unvermögen mit windigen und vor allem teuren Tricks. Ein Beispiel hierfür ist die Bewältigung der Flüchtlingskrise, die sich in diesem Jahr zum zehnten Mal jährte und mit dem ikonisch gewordenen Satz der damaligen Kanzlerin „Wir schaffen das“ verbunden ist. Es war der Beginn eines bis dahin beispiellosen Täuschungsmanövers gegenüber der deutschen Öffentlichkeit. Denn was die damalige Bundesregierung unternahm, kann man nicht als effektive Problemlösung bezeichnen. Es war die Illusion einer Problemlösung, die mit Nachdruck und viel Steuergeld betrieben wurde.
Die in den Jahren 2015 und 2016 beim BAMF gestellten Asylanträge wurden zwar rechtzeitig zur Bundestagswahl 2017 abgearbeitet, aber nicht einmal ansatzweise in der Qualität, die man von einem deutschen Verwaltungsverfahren erwarten darf. Mehrfacherfassungen, ungenügende Nachprüfungen, immer wieder Betrugsvorwürfe im Zusammenhang mit Asylverfahren: Hunderte Milliarden Euro hat der Staat für die Bewältigung der Flüchtlingskrise ausgegeben, darunter sehr üppige Millionenverträge für externe Berater. Bewältigt wurde hingegen nur die Statistik, nicht aber die eigentlichen Probleme.
Auch in der Corona-Krise wurden Milliarden ausgegeben, um die Illusion eines funktionierenden Staates zu schaffen. Es wird einem zu Recht schwindelig, wenn man an den massenhaften Betrug mit Corona-Testzentren denkt, der in einem funktionierenden Staatswesen so nicht möglich gewesen wäre. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Letztlich wurde viel von diesem Geld nur aufgewendet, um die undifferenzierte Lockdown-Politik fortführen zu können.
In diesem Jahr sind dann fiskalisch alle Dämme gebrochen. Die Schuldenbremse wurde faktisch beerdigt, und das Geld wird mit vollen Händen ausgegeben. Das ist in gewisser Weise nur folgerichtig, denn je länger die Illusion des Funktionierens aufrechterhalten werden muss, desto umfangreicher, komplizierter und teurer wird sie.
Dabei ist die haushaltspolitische Enthemmung zwar katastrophal, aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, wie diese Politik die gesellschaftliche Spaltung in diesem Land befördert hat. Denn mangels realpolitischer Lösungsansätze wurden diese Themen zu Glaubensfragen hochstilisiert. Die Frage, ob man latent rassistisch sei, wurde plötzlich entlang der Bewertung der administrativen Handhabung der Flüchtlingskrise diskutiert. Die Frage der eigenen Menschlichkeit wurde auf die Bereitschaft projiziert, sich impfen zu lassen.
Am Ende der Corona-Krise stand ein kaum erträgliches Klima gegenseitiger Anschuldigungen, Verdächtigungen und Denunziationen. Eine Unerbittlichkeit, die staatlicherseits ausdrücklich gewünscht war. „Ungemütlich“ sollte es für Ungeimpfte werden, weil man sich in „Geiselhaft“ jener Menschen wähnte. „Keine roten Linien“ sollte es mehr geben. So redeten die Repräsentanten des Staates seinerzeit. Und viele Menschen mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit folgten: Vom „Blinddarm der Gesellschaft“ war die Rede, „die ganze Republik möge mit dem Finger auf sie zeigen“. Es war wahrlich kein Wunder, dass dieser Ton bald in der Gesellschaft weit verbreitet war.
Wir haben diese Dinge nie aufgearbeitet. Ich denke, eine parlamentarische Aufarbeitung sowohl der Flüchtlingskrise als auch der Corona-Krise mittels eines Untersuchungsausschusses wäre der richtige Weg gewesen. Aber irgendwann ist es zu spät dafür.
Wie sollen wir also an der Schwelle des neuen Jahres, wo wir unseren Blick nach vorne richten wollen und müssen, mit diesen unbewältigten Themen umgehen?
Ich denke, der Staat sollte die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung bitten. Dafür, dass er ihr Geld nicht dafür eingesetzt hat, Probleme zu lösen, sondern um sein eigenes Unvermögen zu vertuschen. Und dafür, dass er es zugelassen hat, dass sich eine Gesellschaft wegen seiner Inkompetenz und seines Versagens entzweit.
Uns als Gesellschaft muss es gelingen, politische Gräben auszuhalten und zu akzeptieren, ohne sie weiter unser Miteinander bestimmen zu lassen. Es gibt überhaupt keinen Grund, dass ein AfD-Wähler und ein Grünen-Wähler keine guten Nachbarn sein können. Außer einem: dem jeweiligen Umgang miteinander. Und wenn ein freundschaftlicher Umgang trotz aller Bemühungen scheitert, bleibt ein Neujahrsvorsatz empfehlenswert: Versuchen Sie, sich nicht gegenseitig auf die Nerven zu gehen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Wir sind Deutsche und wir Deutschen sind im Einreißen von Mauern noch besser als im Aufbauen!
Das gilt nicht nur für das gesellschaftliche Klima, sondern auch für unser Verhältnis von Staat und Bürger.
Mauern gibt es in diesem Land jede Menge – vor allem für diejenigen, die mit privater Initiative etwas erreichen wollen. Es ist eine Mauer, die auf Misstrauen gegenüber privater Initiative fußt. Sie besteht aus Bürokratie sowie einem Übermaß an Abgaben und Steuern. Diese Mauer gilt es einzureißen.
Im Meinungsdiskurs beweist der Staat zunehmend, dass er Angst vor seinen Bürgerinnen und Bürgern hat. Diese Mauer der Angst tritt im Paragraphen 188 StGB zutage und immer dann, wenn Politiker sich abstrakt über „Hass und Hetze“ beklagen, die sie bekämpfen wollen. Diese Mauer der Angst muss weichen.
In unserem Land steckt großes Potenzial – auch zur wirtschaftlichen Erneuerung. Um dieses Potenzial zu entfesseln, muss die Bundesrepublik ihre mindestens seit 2015 eingeübten Rituale radikal beenden. Das Heil liegt nicht in immer größeren Ausgaben, die strukturelle Probleme übertünchen. Das Heil liegt allein in den Bürgerinnen und Bürgern. Nur ihre Einsatzbereitschaft, ihr Können und ihre Leistungsbereitschaft können den Karren aus dem Dreck ziehen. Als Staat sollte jede Bundesregierung daher alles dafür tun, die notwendigen Bedingungen dafür optimal zu erfüllen.
In einem Land, in dem Leistung und Initiative sich lohnen, werden diese Potentiale entfesselt. In einem Land, in dem der Staat seinen Menschen mehr zutraut, als er ihnen misstraut.
All das bedeutet nicht weniger als eine 180-Grad-Wende der Politik des letzten Jahrzehnts. Es hat nicht gereicht, Angela Merkel nicht mehr im Amt der Kanzlerin zu haben. Ihre Politik ist es, die enden muss. Das kann uns 2026 gelingen. Es muss gelingen.
Dafür wünsche ich allen Beteiligten Mut und die notwendige Einsicht – und uns allen ein glückliches und friedliches Jahr 2026!