KUBICKI-Kolumne: An einer ganzen Generation versündigt
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Es ist kein neues Phänomen, dass der deutschen Öffentlichkeit in den Sommermonaten einige Nonsens-Debatten zugemutet werden und dass vor allem Politiker aller Farben bereitwillig jede noch so schwerfällige Sau durchs Dorf jagen, wenn sie sich nur etwas Aufmerksamkeit davon versprechen. So arbeiten sich dieser Tage einige rote und grüne Kolleginnen und Kollegen tagelang an einem Auftritt der Bundestagspräsidentin ab, der in den falschen Räumlichkeiten stattgefunden habe – nämlich in denen des Unternehmers Frank Gotthardt, der nicht nur ein großer Arbeitgeber in Koblenz ist, sondern auch Finanzier des Portals „Nius“. Dabei geht es dann schnell auch mal unter die Gürtellinie, wie Paula Piechotta, Bundestagsabgeordnete der Grünen, bewies. Sie ließ uns wissen, dass sie das Kleid Klöckners bei dem Auftritt „wirklich nicht Nachthemd nennen“ würde, aber ein „Marketing-Problem“ für den Hersteller sehe. Marketing-Fragen treiben derweil auch viele AfD-Politiker um, die uns an ihren Gedanken zu Käseverpackungen teilhaben lassen. Denn „Käse, der für Heimat und Tradition stehen sollte, bekommt nun ein Design, das auf krampfhafte Vielfalt“ setze, wie der AfD-Bundestagsabgeordnete Dario Seifert analysierte. Ganz so, als seien die betroffenen Markennamen „Sylter“ oder „Müritzer“ althergebrachtes deutsches Käsekulturgut und nicht ihrerseits einfach vor allem eins: Marketing. Aha, mag man sich denken und daraus zufrieden ableiten, dass einfach keine echten „Aufreger“ stattgefunden haben. Aber das stimmt nicht einmal, wenn man die sehr in Bewegung geratene internationale Lage beiseitelässt. Echte politische Aufreger gibt es genug. Die neuen Steuererhöhungsphantasien des Bundesfinanzministers beispielsweise.
Erstaunt hat mich aber vor allem, dass im „Stern“ in der letzten Woche eine Recherche von „Investigativstation“ erschien, die wirklich schwerwiegende Fragen zur Amtsführung von Jens Spahn als Gesundheitsminister aufwirft und die keinen großen öffentlichen Widerhall gefunden hat. Dabei hat es die wirklich in sich: Jens Spahn hat den damaligen RKI-Chef während der Pandemie nicht nur äußerst ruppig umherkommandiert, er hat dies von einer Mail-Adresse in seinem Bundestagsbüro getan, die eigentlich für Mitarbeiter vorgesehen ist. Dabei war die Kommunikation dem Sachzusammenhang nach klar seiner Arbeit als Minister zuzuordnen. Das ist kein Lapsus, sondern ein bewusstes Umgehen der behördlichen Kommunikationswege, und das vereitelt letztlich die ordnungsmäßige Dokumentation, die die Voraussetzung für eine effektive gerichtliche und parlamentarische Kontrolle ist.
Noch schwerwiegender sind aber die Inhalte, die in der Recherche bekannt geworden sind. Denn offensichtlich hatte der RKI-Chef zu der damals heiß diskutierten Frage, ob Schulen und damit Kinder „Treiber der Pandemie“ sind, eine klare und unzweideutige Meinung. Er ließ seinen Chef im November 2020 wissen: „Nicht Kinder treiben die Erwachsenen vor sich her, sondern eher umgekehrt.“ Ein sogenanntes „Superspreading“ finde in Schulen so gut wie gar nicht statt. Dies soll Lothar Wieler laut Recherche Spahn mitgeteilt haben, bevor dieser sein Schutzkonzept für Schulen öffentlich vorstellte, wonach eine Klasse sofort in Quarantäne zu gehen habe, wenn ein Fall dort auftrete.
Am 25. November 2020 fand dieses Konzept dann Eingang in den Beschluss der Länderchefs und der Bundeskanzlerin. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Hunderttausende (!) Kinder in Quarantäne und deutlich über hundert Schulen komplett geschlossen. Im Dezember schlossen die Schulen dann wieder komplett. An insgesamt 74 Tagen waren die Schulen in Deutschland komplett geschlossen, an 109 waren sie es teilweise. Eine Katastrophe, die in den Bildungsbiografien von Millionen von Kindern lange nachwirkt. Wie sehr, ist auch heute, fast fünf Jahre nach den Mails zwischen Spahn und Wieler, nicht absehbar. Die lapidare Erklärung von Spahn und anderen Verantwortlichen, die langen Schulschließungen seien ein Fehler gewesen, hilft da wenig weiter. Denn vielmehr drängen sich schwerwiegende Fragen auf, die noch immer nicht beantwortet sind: Wussten die Länderchefs und die Bundeskanzlerin um die Einschätzung des RKI-Chefs, als sie ihre Beschlüsse zu den Schulen fassten? Wenn nein, warum nicht? Und wenn ja, wieso haben sie sich darüber hinweggesetzt?
Man muss sich vor Augen führen: Die Einschätzung Wielers im November 2020 war völlig korrekt. Es ist ziemlich genau das, was rund zwei Jahre später von Karl Lauterbach öffentlich verkündet wurde, als auch dieser einräumte, dass die Schließungspolitik ein schwerer Fehler war. War es ein vermeidbarer Fehler, oder einer, der nur begangen wurde, weil ein Minister es besser zu wissen meinte als der Chef des Robert Koch-Instituts?
Nicht nur aus dem jetzt bekannt gewordenen Mailverkehr, sondern auch aus den RKI-Protokollen wissen wir, dass der politische Druck auf die Behörde immens war – und sie sich im Zweifel diesem beugen musste, etwa als Karl Lauterbach politisch entschied, die Risikobewertung nicht den Realitäten anzupassen. Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu den Schulschließungen im Rahmen der sogenannten Bundesnotbremse hatte das RKI sich nicht gebeugt und richtigerweise mitgeteilt, dass die Schulen keine „Treiber“ in der Pandemie darstellen würden. Die Möglichkeit der Ansteckung in der Schule oder auf dem Weg dahin bestand gleichwohl. Daraus hat das Gericht abgeleitet, dass eine Schulschließung den Gesundheitsschutz mit Blick auf das Infektionsgeschehen fördern könne. Ob es zu diesem Verfahren gekommen wäre, wenn Wieler den Länderchefs und der deutschen Öffentlichkeit mit gleichem Nachdruck wie Spahn schon genau ein Jahr zuvor mitgeteilt hätte, welche Gefährdung von den Schulen ausgeht und welche nicht, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso die Frage, ob die Schulschließungen dann noch als verfassungsrechtlich verhältnismäßig beurteilt worden wären. Die damalige Bundesregierung hatte sich in der Schulfrage in der Corona-Pandemie komplett verrannt und sich am Recht auf Bildung an einer ganzen Generation versündigt. Da mussten dann alle rhetorischen Register gezogen werden, um die verfassungsrechtliche Tatsache, dass der Bund in Schulfragen keine Kompetenz hat, irgendwie zu überspielen. Etwa als die damalige Kanzlerin in der Generaldebatte am 9. Dezember 2020 im Deutschen Bundestag ausführte:
„Es mag ja sein, dass die Aufhebung der Schulpflicht das Falsche ist; dann muss es eben der Digitalunterricht oder sonst etwas sein. Ich weiß es nicht; das ist auch nicht meine Kompetenz, da will ich mich nicht einmischen. Ich will nur sagen: Wenn wir vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend die letzten Weihnachten mit den Großeltern waren, dann werden wir etwas versäumt haben.“
Die Schulen schließen oder Oma und Opa opfern – auf diesem unterirdischen Niveau gab die Merkel-Regierung den Ton der Debatte vor und sorgte dafür, dass alle, die vor den immensen Kollateralschäden gewarnt haben, ignoriert wurden. Inwieweit in dieser Sache weiter Druck auf das RKI ausgeübt wurde und wer wann was genau wusste, wird nur in einem Untersuchungsausschuss aufgeklärt werden können. Die Journalisten von „Investigativstation“ haben erklärt, noch weitere Unterlagen erstreiten zu wollen und zu gegebener Zeit, wenn sie vollständig sind, diese mit den Mails zu veröffentlichen. Spahn wäre gut beraten, jetzt in die Offensive zu gehen und alles auf den Tisch zu legen. Der Umgang Deutschlands mit der Corona-Pandemie hatte schwerwiegende soziale und gesellschaftliche Folgen. Die Spaltung der Gesellschaft wurde bis ins Unerträgliche vorangetrieben. Das war vermeidbar, wie der Blick nach Schweden zeigt. Schweden ist zumindest nicht schlechter durch die Pandemie gekommen als Deutschland. Die hierzulande zu beobachtende Spaltung ist nicht eingetreten, und das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung wurde besser geschützt. Wer mit Blick auf die Corona-Aufarbeitung entnervt abwinkt und meint, es sei langsam mal Gras über die Sache gewachsen, hat nicht begriffen, wie groß der Schaden dieser verheerenden Fehler nach wie vor ist. Wem die Bildung unserer Kinder wirklich am Herzen liegt, kommt ohnehin nicht darum herum, sich für eine Aufklärung einzusetzen. Denn das ist ein wirklicher Aufreger – und ein Land, das sich mal viel auf die Ressourcen in den Köpfen einbildete, muss mit heißem Herzen dafür streiten, dass nie wieder Chancen einer ganzen Generation so massiv gefährdet werden.
Der Aufschrei müsste so viel lauter sein als bei Käseverpackungen oder Kleider- und Auftrittsfragen von Julia Klöckner – bis Jens Spahn umfassend Rechenschaft zu den Vorwürfen ablegt und auch erklärt, inwieweit die damalige Kanzlerin und die Länderchefs einbezogen waren.