KUBICKI-Kolumne: Mea Culpa!
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:
Die ersten hundert Tage der Regierung Merz sind vorüber, und manch einer glaubt, ein politisches Déjà-vu zu erleben. Ausgerechnet der Mann, der sich in größte Opposition zur gescheiterten Ampel gesetzt hat, scheint ihre Fehler in Lichtgeschwindigkeit zu wiederholen. Die Rolle der Union, so behaupten einige, gleiche dabei derjenigen der FDP. Ich glaube das nicht. Auch wenn das Resultat das gleiche ist: ein dramatischer Vertrauensverlust bei den Wählerinnen und Wählern. Um zu erläutern, was ich meine, ist es unerlässlich, dass ich an dieser Stelle auf die Fehler der FDP in der Ampel-Regierung eingehen muss. Das Thema ist komplex und nicht besonders angenehm. Besonders nicht für jemanden, der über ein halbes Jahrhundert in dieser Partei gewirkt hat. Aber Wegducken ist keine Option, und so habe ich schon unmittelbar nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag eine umfassende Analyse zu den Fehlern und dem nach wie vor gegebenen Potenzial des politischen Liberalismus in meinem Buch „Aufwind im freien Fall“ vorgelegt. Der Form der Kolumne ist geschuldet, dass ich mich hier auf ein paar Punkte konzentrieren muss. Mir ist dabei bewusst, dass vielen nicht gefällt, was ich zur Ampelzeit zu sagen habe, und der Argwohn schon beim Lesen dieser Zeilen ins Unermessliche steigen dürfte. Deshalb möchte ich möglichst kurz und schmerzlos einsteigen: Die FDP ist bei der letzten Bundestagswahl gescheitert, weil sich unsere Wählerinnen und Wähler betrogen gefühlt haben. So brutal muss man es leider ausdrücken. Dabei war der Beginn der Koalition für die FDP recht verheißungsvoll. Nach Bekanntwerden des Koalitionsvertrags waren sich nahezu alle Kommentatoren einig, dass dieser die Handschrift der Freien Demokraten trage. Und tatsächlich glaube ich nach wie vor, dass der Koalitionsvertrag eine gute Grundlage hätte sein können. Es gab nur zwei Probleme: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Grundlagen der Politik schon sehr früh so dramatisch verändert, dass dieser Vertrag als Arbeitsgrundlage nicht mehr recht taugte. Das zweite Problem ist tatsächlich ein Geburtsfehler der Koalition: das zu weitgehende Aussparen der Corona-Problematik.
Die FDP hat 2021 ein sensationelles Ergebnis eingefahren, und das lag vor allem daran, dass das Freiheitsthema bei vielen Wählerinnen und Wählern eine unglaubliche Konjunktur hatte und die FDP in der parlamentarischen Opposition als Hüterin der Kontrolle und der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgetreten ist. Ich habe selten so eine ehrliche Begeisterung für die Freiheit erlebt wie im Wahlkampf 2021. Dutzende Spontaneintritte in die FDP bei Wahlkampfveranstaltungen waren keine Seltenheit. Besonders viele junge Menschen waren darunter. Es war ein breiter Zuspruch, in dem koalitionstaktische Überlegungen keine Rolle spielten. Das macht den Erfolg der FDP 2021 tatsächlich zu einem singulären Ereignis in der Geschichte des politischen Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Deswegen nahmen uns unsere Wählerschaft den Eintritt in die Koalition mit Grünen und SPD auch nicht wirklich übel. Übel nahmen sie uns dafür umso mehr, was daraus wurde.
Statt die Grundsätze der zukünftigen Corona-Politik im Vertrag zu fixieren, wurden die Differenzen der Parteien in dieser Frage dadurch überbrückt, dass man das Thema einfach in den wesentlichen Fragen aussparte. Die ersten Streits waren so vorprogrammiert. Und das Gesicht der Corona-Politik der Ampel war zum Leidwesen aller Freunde der Freiheit das von Karl Lauterbach, der nichts wirklich besser machte als sein Vorgänger, dafür aber mit seiner unaufrichtigen und erratischen öffentlichen Kommunikation und seiner unerträglichen Politisierung von Institutionen wie dem RKI und dem PEI die Corona-Politik zusätzlich chaotisierte. Die Abstimmung zur allgemeinen Impfpflicht musste freigegeben werden, weil die Koalition sonst schon nach einem halben Jahr am Ende gewesen wäre. Leider gingen die Probleme danach umso stärker weiter. Die Ursache war nicht der Koalitionsvertrag, sondern dass die FDP mit dem linken Kulturkampf assoziiert wurde und zu wenig dagegen unternommen hat.
Hierzu nur drei Beispiele: Erstens das Selbstbestimmungsgesetz. Jeder liberal denkende Mensch wusste, dass das Transsexuellengesetz, das in großen Teilen vom Bundesverfassungsgericht für unanwendbar erklärt wurde, abgeschafft werden musste. Das war auch die lange bestehende Beschlusslage meiner Partei. Das Problem war vielmehr, dass die Koalition es nicht vermocht hatte, eine wirklich liberale Antwort auf die Problemstellung zu finden. Man kann es zwar durchaus Freiheit nennen, dass jeder sein juristisches Geschlecht jährlich durch Sprechakt vor dem Standesamt ändern kann. Aber wie ich damals schon bei der Abstimmung zu dem Gesetz ausführte, bleiben zentrale Folgefragen unbeantwortet. Hinzu kam, dass das juristische Geschlecht durch die Politik der Ampel leichter zu ändern ist als eine neue Gasheizung einzubauen – Letzteres geht bekanntlich nur noch nach einem zwingend vorgeschriebenen Beratungsgespräch.
Zudem erstreckt sich der Beweiswert des Geschlechtseintrags in amtlichen Dokumenten streng genommen nur noch auf die Frage, welche Erklärung man im Zweifel vor dem Standesamt vorgenommen hat. Für solche Fragen muss man keine amtlichen Register führen. Das ist, gelinde gesagt, bürokratisch und idiotisch. Eine Streichung des Geschlechtseintrages ohne „Selbstbestimmungsgesetz“ wäre wohl noch herausfordernder und natürlich auch problembehaftet, aber es wäre unbürokratisch und ehrlich gewesen und hätte uns nicht dem Vorwurf ausgesetzt, der rot-grünen Agenda zu folgen. Unsere Wählerschaft hat eine hohe Affinität für gegenseitige Toleranz und Chancengleichheit aller Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Abstammung und sexueller Orientierung. Und das trifft sich gut, denn das sind zentrale Werte der Freien Demokraten. Kein Verständnis hat sie für eine unausgegorene und undurchdachte, ideologisierende Gesetzgebung. Bestenfalls ist es ihnen egal – aber nur darauf zu hoffen, ist reichlich naiv.
Im zweiten Beispiel verhält es sich ähnlich: dem Cannabisgesetz. Nicht das Anliegen als solches, sondern die einem rot-grünen Fiebertraum gleichende Umsetzung hat hier zum Vertrauensverlust beigetragen. Es mag zunächst widersprüchlich klingen, aber für mich war stets klar, dass Liberalisierung auch ein Instrument der Ordnung sein kann. Wir haben das in der schwarz-gelben Koalition in Schleswig-Holstein ab 2009 erfolgreich bewiesen, als wir das Online-Glücksspiel legalisierten. Das Prinzip ist, vereinfacht gesagt: Ein kontrollierter Markt bringt mehr Schutz als ein unkontrollierbarer Schwarz- und Graumarkt. Man kanalisiert das, was ohnehin passiert, in geordnete Bahnen. So erreicht man mit Liberalisierung mehr Schutz als mit Prohibition – was insbesondere Konservative oft nur schwer verstehen. Wir wurden damals massiv kritisiert, aber haben uns letztendlich bundesweit durchgesetzt, weil es vernünftig war.
Was wir beim Cannabis-Gesetz fabriziert haben, lässt sich hingegen nach dem Praxistest mit Vernunft nicht mehr verteidigen. Der Schwarzmarkt floriert, weil es schlicht nicht mehr kontrollierbar ist, wo Besitz legal, Erwerb aber illegal ist. Die Idee der Anbauvereinigungen, in denen Cannabis legal angebaut und konsumiert werden darf, folgt zwar sozialistischer Logik der Kollektivierung von Produktion und Waren, hat aber keinerlei Potenzial, ein attraktives Gegenangebot zum Schwarzmarkt und dem legalen bzw. halblegalen Angebot in Nachbarländern wie Tschechien oder den Niederlanden zu schaffen. Ich stehe zur Idee der Legalisierung von Cannabis, aber mein Ziel bleibt es, dadurch die Droge möglichst fern von Schulhöfen und von Kindern und Heranwachsenden generell zu halten. Dass die Drogenpolitik in dieser Frage schon vorher gescheitert war, ist keine Rechtfertigung für das Festhalten an einem ebenso ungeeigneten Ansatz.
Der dritte und letzte Punkt betrifft das Thema Integration und Migration. Die größte Reform, die die Ampel in diesem Bereich vorgelegt hat, ist die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die einen niedrigschwelligen Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft ermöglichte. Auch hier gilt: Der Ansatz ist nicht verkehrt, aber er hat aus liberaler Sicht eine Grundvoraussetzung, die nicht erfüllt war: Es muss unbedingte Ordnung beim Zuzug nach Deutschland herrschen, da sonst falsche Anreize gesetzt werden. Die Kontrolle der Migration ist die Voraussetzung für ein modernes Einwanderungsland. Mit dieser Erkenntnis hat die FDP schon 2017 einen sehr erfolgreichen Bundestagswahlkampf bestritten. Diese Voraussetzung war bei der Ampel leider nicht erfüllt, und so entstand auch hier der fatale Eindruck, die FDP würde sich mit dem Abarbeiten rot-grüner Talking-Points begnügen. Unsere Anliegen gingen dahinter unter. Das demotiviert die Anhängerschaft und hat einen beispielslosen Vertrauensverlust nach sich gezogen. Dass wir es zusätzlich zugelassen haben, auf die steigende Gewalt im öffentlichen Raum mit Unsinnigkeiten wie Messerverbotszonen zu reagieren, halte ich nach wie vor für einen großen Fehler.
Die Fehler der FDP lagen nicht in unserer Programmatik und auch weniger im Koalitionsvertrag, sondern in der konkreten Umsetzung. Den Schuh muss sich die Partei – und auch ich – anziehen: Mea culpa!
Kein Trost, sondern eher alarmierend ist, dass die Fehler von Friedrich Merz noch verheerender sind als die unsrigen. Er verliert das Vertrauen nicht, weil er im Koalitionsalltag mit der SPD hinter den Wählererwartungen zurückbleibt. Er schreit den Wählern quasi ins Gesicht, dass ihn diese Erwartungen nicht kümmern. Schon vor Regierungsbildung war das der Fall, als er die Schuldenbremse quasi beerdigte. Und bei der Israel-Politik hat er es jüngst wieder getan, als er nicht nur verraten hat, wofür die Union in dieser Frage seit Adenauer steht, sondern auch, was er im Wahlkampf wiederholt versprochen hat. Von der „letzten Kugel für die Demokratie“ sprachen viele bei der letzten Bundestagswahl. Ein alarmistisches Bild, aber kein völlig aus der Luft gegriffenes. Es sei denn, meine Partei arbeitet ihre Fehler der Ampel glaubhaft auf – und die Union versucht nicht, sie im negativen Sinne zu toppen.