KUBICKI-Kolumne: Will die SPD überhaupt regieren?

Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für Cicero Online folgende Kolumne:

Der Rentenkonflikt der Regierung verläuft im Moment zwischen Kanzleramt und Unionsfraktion. Das ist bemerkenswert, aber als überzeugter Parlamentarier, der ich über dreieinhalb Jahrzehnte in diesem Land sein durfte, sehe ich darin allein keinen politischen Weltuntergang. Im Gegenteil: Hier zeigt sich die Machtverteilung, wie sie von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gewünscht war. Gesetzgeber ist nicht das Bundeskabinett, sondern der Deutsche Bundestag. Entscheidungskompetenz beinhaltet dabei auch die Pflicht der gewissenhaften Prüfung, und das ist eine komplizierte Angelegenheit im Spannungsfeld zwischen eigenen Überzeugungen und Loyalität zur eigenen Fraktion und Regierung – wenn es hart auf hart kommt, sogar zwischen Gewissen und Staatsräson. Denn einerseits ist die Freiheit der Abgeordneten nicht ohne Grund ein verfassungsmäßig abgesichertes Recht, andererseits wird eine politische Kraft nur regierungs- und gestaltungsfähig sein können, wenn ihre Abgeordneten diese Freiheit in Loyalität zu ihrer Fraktion ausüben und jeweils sorgsam abwägen. Auflösen kann man dieses Spannungsfeld – wie so oft im Leben – nur durch Kommunikation. Diese passiert in der Regel nicht öffentlich. Das ist in diesem Fall nicht mehr möglich. Und das liegt an einem bemerkenswerten Manöver der SPD und einem geradezu beispiellosen Dilettantismus der Union.

Um das Manöver der SPD richtig einordnen zu können, muss man einen Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD werfen. Dort ist der Kompromiss zur Rente klar umrissen: „Wir werden die Alterssicherung für alle Generationen auf verlässliche Füße stellen. Deshalb werden wir das Rentenniveau bei 48 Prozent gesetzlich bis zum Jahr 2031 absichern.“ Alles über das Jahr 2031 hinausgehende soll einer Rentenkommission vorbehalten sein. Man kann das inhaltlich bewerten, wie man mag, aber der vereinbarte zukünftige gesetzliche Rahmen für das Rentenniveau ist damit völlig unzweideutig umrissen. Das ficht Arbeitsministerin Bärbel Bas allerdings nicht an, und sie legte einen Gesetzentwurf vor, der auch Aussagen zum Rentenniveau nach 2031 trifft, in der Gesetzesbegründung wie folgt zusammengefasst: „Auch nach 2031 liegt das Rentenniveau um rund einen Prozentpunkt höher als im geltenden Recht.“ Vom Koalitionsvertrag gedeckt war das nicht. Aber siehe da: Das Vorgehen der Arbeitsministerin wurde aus ihrer Sicht belohnt. Das Kabinett winkte den Entwurf durch. Auch das ist kein Beinbruch, denn die gesetzgeberische Verantwortung liegt ja beim Parlament und den Fraktionen. Genug Zeit, um in dem von der Verfassung vorgesehenen Rahmen den Willen von Abgeordneten, Koalition und Parteien zu synchronisieren.

Ja, richtig gelesen: von den Parteien. Fraktionen sind die parlamentarischen Arme der Parteien. Die Parteien sind nicht die zivilgesellschaftlichen Arme von Regierung und Parlamentariern. Koalitionsverträge werden daher von Parteien und nicht von Fraktionen oder gar dem Bundeskabinett besiegelt. Irgendwie scheint Friedrich Merz das vergessen zu haben, denn trotz Koalitionsvertrag und sehr absehbarem Dissens mit mindestens einem Teil seiner Fraktion und seiner Partei sprach er ein Basta-Wort zugunsten der SPD. Die SPD wiederum konnte ihr Glück kaum fassen und erhöhte auf „Alles oder nichts“: Entweder das Gesetz kommt wie von Bärbel Bas in ihrem Haus erarbeitet – oder gar nicht. In Boulevard-Medien werden solche ultimativen Ansagen gerne mit einem kurzen lautmalerischen Wort kommentiert: Rumms!

Gerummst hat es dann auch gewaltig – und zwar in der Union selbst. Machtpolitisch kann man der SPD nicht einmal einen Vorwurf machen, denn das strategische Unvermögen von Friedrich Merz und Jens Spahn hat diesen Ball der SPD auf den Elfmeterpunkt gelegt. Bloß bleibt in der Diskussion über den Koalitionszoff völlig unterbeleuchtet, welchen Nutzen die SPD aus einem solchen machtpolitischen Manöver – nicht einmal ein Jahr nach der Bundestagswahl – ziehen will. Niemand hätte der SPD einen Vorwurf machen können, wenn sie sich auf die im Koalitionsvertrag vereinbarte Linie zurückgezogen hätte. Aber sie sucht die offene Demütigung des Koalitionspartners. Und das wirft abseits aller verfassungstheoretischen Überlegungen über Gesetzgebungshoheit die Frage auf: Will die SPD überhaupt bis 2029 mit der Union regieren?

Die SPD unter Lars Klingbeil versucht schon lange, aus dem Rententhema parteipolitischen Erfolg zu pressen. Beispielsweise im letzten Wahlkampf, als der damalige Kanzler in sehr unappetitlicher Weise die Renten mit der Unterstützung für die Ukraine verknüpfte. Der Erfolg dieser Kampagne war mäßig, wie wir inzwischen wissen. Aber Lars Klingbeil scheint an einen späten Erfolg dieser Strategie zu glauben. Anders ist nicht zu erklären, dass er just in dem Moment, als der Kanzler sich auf dem Deutschlandtag der Jungen Union nach allen Regeln der Kunst für seine falsch verstandene Koalitionstreue grillen lassen musste, vom Landesparteitag der SPD in Baden-Württemberg munter Öl ins Feuer kippte und verkündete: An diesem Gesetz wird nichts mehr verändert. Die SPD führt den Rentenwahlkampf – nur kurz unterbrochen von den Koalitionsverhandlungen – einfach weiter. Aber wer einen Wahlkampf führt, spielt auch mit der Möglichkeit, dass schon bald wieder gewählt werden könnte.

Dazu passen auch weitere öffentliche Auftritte von namhaften SPD-Politikern in dieser Woche. Nicht nur Bärbel Bas ließ keinen Zweifel an ihrer Kompromisslosigkeit. In der Talkshow von Markus Lanz saß am Dienstag Karl Lauterbach und unterstellte den Kritikern an dem Gesetzentwurf Verschwörungstheorien. Kurz zuvor erweckte er auf X noch den falschen Eindruck, den Kritikern unter den Unionsabgeordneten gehe es um eine Kürzung der Renten.

Nach dreieinhalb Jahren mit der SPD in einer Koalition weiß ich um das zunehmend bizarre Politikverständnis, das sich dort breitgemacht hat. Aber politischer Erfolg misst sich nicht in der maximalen Demütigung des Koalitionspartners, selbst wenn er so laienhaft agiert wie Friedrich Merz. Die SPD hat Friedrich Merz schon bei der Kanzlerwahl blamiert, als er nicht die nötigen Stimmen erreichte. Bei der „Stadtbild“-Debatte haben sich namhafte Sozialdemokraten an die Spitze derer gesetzt, die den Kanzler ganz bewusst missverstehen wollten. Beim sogenannten „Herbst der Reformen“ haben sie ihm nicht einmal den Anschein gegönnt, er habe sich mit diesem Vorhaben in irgendeiner Art und Weise durchsetzen können. Die Sozialdemokraten spielen ein falsches Spiel zulasten der Gestaltungsfähigkeit dieses Landes – nicht erst in dieser Koalition.

Derweil eskaliert der Rentenstreit auch in der Gesellschaft, und Vertreter verschiedener Generationen überziehen sich wechselseitig mit Vorwürfen. Das ist keine zwangsläufige Entwicklung, sondern Resultat einer Politik, die diese Konfrontation sucht und will. Der Weg aus dieser Sackgasse ist eine große, umfassende und strukturelle Rentenreform. Eine, bei der der Einfallsreichtum über höhere Zuschüsse hinausgeht. Eine, die mehr Geld durch die kapitalgedeckte Säule erwirtschaftet und in der das Renteneintrittsalter flexibilisiert wird. Diese strukturelle Reform wird aber nicht kommen, solange diese SPD weiter regiert. Dabei ist doch klar, dass kein Politiker in Deutschland gegen auskömmliche und gute Renten argumentieren wird. Es geht hier um politisches Handwerk und weniger um politische Überzeugungen. Die SPD ignoriert das und übersieht zudem, dass sie den Rentenniveau-Überbietungswettkampf schon lange gegen die AfD verloren hat. So bleibt die SPD, was sie schon in der Ampel war: die politische Organisation der Reformblockade.

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