LINDNER-Interview: Neu für Selbstverantwortung werben

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Samstagausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Rena Lehmann:

Frage: Herr Lindner, Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen und haben mit Armin Laschet von der CDU eine schwarz-gelbe Koalition geschmiedet. Warum sinkt die Zustimmung für sein Corona-Management in der Bevölkerung dort so drastisch?

Lindner: Wir haben generell eine Tendenz, dass momentan der schützende Staat in der Verkörperung des strengen Landesvaters populär ist. Es wird zwar gemeinhin gesagt, es müsste dann doch eine Gegenbewegung hinsichtlich starker Freiheitsbeschränkungen geben. Aber das beobachte ich in der Bevölkerung momentan nur verhalten. Für das Vertrauen auf Selbstverantwortung und private Initiative werden wir nach Corona neu werben müssen.

Frage: Sie sprechen da aus eigener Erfahrung?

Lindner: Wir setzen uns ja stets dafür ein, dass der Staat mit seinen Zugriffen verhältnismäßig handelt. Bürgerrechte müssen geachtet werden. Nicht die Freiheit muss gerechtfertigt werden, sondern die staatliche Einschränkung der Freiheit. Solche Positionen finden momentan nicht den Applaus des Tages. In der Sache folgt Deutschland allerdings einer Strategie, wie sie die nordrhein-westfälische Landesregierung und die FDP schon vor längerer Zeit angeregt haben. Das heißt: statt rigider bundesweiter Einschränkungen einen flexibleren Ansatz mit einer Orientierung auf das regionale Infektionsgeschehen. Dazu kommen Hygiene- und Abstandsregeln im Alltag, die von allen geachtet werden müssen, und digitale Möglichkeiten, die Infektionsketten nachzuverfolgen. So kann man den Gesundheitsschutz beachten, zugleich aber mehr Freiheit erhalten und die sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung reduzieren.

Frage: Welche Verantwortung tragen gerade Unternehmen der Fleischindustrie?

Lindner: Unabhängig vom Fall geben die Strukturen in der Fleischindustrie Anlass zur Sorge. Es gibt nur wenige große Betriebe, was nie gut ist. Es fehlen die kleinen und mittleren Spieler am Markt. Ich habe aber Zweifel, ob ein Verbot von Werkverträgen das Problem löst. Bei Saisonarbeitskräften sind sie ein bewährtes Instrument, um Flexibilität zu erreichen. Eines ist aber klar geworden: Wenn Saisonarbeitskräfte in den Betrieb kommen, kann der Arbeitsschutz nicht allein auf die Arbeitsstätte begrenzt sein. Auch beim Transport der Menschen und in ihren Unterkünften muss Arbeitsschutz gelten. Man hört, dass die schwarzen Schafe der Branche den Mindestlohn auch dadurch unterlaufen, dass sie überhöhte Kosten für die Unterkunft berechnen. Das kann man nicht hinnehmen.

Frage: Ein anderes Thema: Die Union steuert auf 40 Prozent zu, die FDP liegt bei um die 5 Prozent…

Lindner: Das Versprechen, dass der Staat uns alle schützt und auffängt, ist populär. Und das war immer ein Markenkern der Unionsparteien. Es wird nach dem Staat gerufen, um die Menschen vor Corona zu schützen. Es wird der Staat gerufen, um die Wirtschaft zu retten. Obwohl es momentan nicht populär ist, müssen wir als Liberale dennoch die Frage nach der Rolle des Einzelnen und seiner Verantwortung stellen. Wir sehen die Grenzen der staatlichen Möglichkeiten, denn die ganzen Schulden müssen ja irgendwann bezahlt werden. Die Politik war auch nie der bessere Unternehmer, um Zukunftstechnologien zu entwickeln, die Arbeitsplätze schaffen. Die starke Fixierung auf den Staat darf nicht in einer Überforderung und Enttäuschung enden.

Frage: Also würden Sie die Unternehmen jetzt pleite gehen lassen, Stichwort eigenes Risiko?

Lindner: Es gibt Risiken, die so groß sind, dass sie die Möglichkeiten individueller Verantwortungsübernahme überschreiten. Deshalb ist das staatliche Eingreifen in einer solchen Ausnahmesituation auch absolut gerechtfertigt. Ein Sicherheitsnetz für Arbeitsplätze und Betriebe ist richtig. Aber es kommt auf Maßnahmen an, mit denen wir unser Land besser machen, als es vor Corona war. Die befristete Senkung der Mehrwertsteuer ist sehr teuer, aber nicht zielsicher. Besser hätte man für kleine und mittlere Einkommen die Lohn- und Einkommensteuer auf Dauer reduziert. Das hätte auch Kaufzuversicht gestärkt. Die Verluste dieses Jahres sollten die Betriebe zudem bei der Steuer mit den Gewinnen vergangener Jahre und des nächsten Jahres verrechnen können. Das würde auch Zahlungsunfähigkeit verhindern.

Frage: Welches Thema hat denn für die FDP im kommenden Bundestagswahlkampf Priorität?

Lindner: Wir müssen uns darum bemühen, dass wir zukunftsfähige Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen. Die Veränderungen auf der Weltbühne und der technische Wandel setzen uns unter Druck. Durch die Corona-Krise hat die Sicherung von Arbeitsplätzen eine neue Aktualität. Da kann die FDP gute Beiträge leisten. Ein wichtiges Thema für uns ist außerdem, die Lebenschancen der jüngeren Generation zu sichern. Wir machen jetzt viel auf Pump. Unsere Sozialversicherungsbeiträge werden stark steigen. Die unter 45-Jährigen dürfen nicht den Eindruck haben, dass alles zu ihren Lasten geht. Nicht zuletzt haben wir großen technologischen Nachholbedarf. Den Klimaschutz sollten wir zusammen mit Digitalisierung und Spitzentechnik denken, dann kann daraus ein Exporterfolg werden.

Frage: Sie wollen die FDP wieder in eine Bundesregierung führen. Kommt ein Bündnis mit Union und Grünen infrage?

Lindner: Wir haben immer gesagt: Wir schließen nichts aus, außer eine Zusammenarbeit mit AfD oder Linkspartei. Wie 2017 entscheidet sich die Frage nach einer Regierungsbeteiligung an dem, was inhaltlich möglich ist. In mancher Umfrage erscheint jetzt sogar eine schwarz-gelbe Koalition wieder möglich. Wenn Gutes fürs Land bewirkt werden kann, wollen wir natürlich mitregieren.

Frage: Wären Sie auch bereit zu einer Koalition mit einem SPD-Kanzler Olaf Scholz?

Lindner: Angesichts der Zahlen scheint mir das keine spannende Spekulation zu sein. Die Frage ist zudem, wie sich die SPD inhaltlich positionieren will. Wenn sie sich wieder mehr in die Richtung orientiert, die für ihre klassischen Wähler interessant ist, würde sie sich auch wieder der FDP nähern. Der klassische SPD-Wähler hat hart für eine gute Qualifikation gearbeitet. Er ist vielleicht Facharbeiter, sie vielleicht Angestellte. Beide sind fleißig, machen Überstunden und zahlen deshalb enorm an Steuern und Abgaben. Zusammen hat man den Traum, am Ende des Arbeitslebens eine abbezahlte Wohnung zu besitzen, aber kommt dem Ziel nicht näher. Man wünscht sich intakte öffentliche Schulen für die eigenen Kinder, weil man sich private nicht leisten kann. Man kann auch nicht alle fünf Jahre einen neuen Tesla kaufen, sondern muss den alten VW Diesel noch einen Moment fahren. Für diesen Teil der früheren SPD-Wähler ist die FDP eine spannende Option. Aus meiner Sicht versucht die SPD nämlich linker als die Linkspartei und grüner als die Grünen zu sein. Die Lebenssituation, über die ich gerade gesprochen habe, wird so ausgeblendet.

Frage: Apropos ausblenden: Sie sind erst 41, aber schon seit sieben Jahren Parteichef. Ärgert es Sie, wenn bereits über mögliche Nachfolger spekuliert wird?

Lindner: Das gehört zum Geschäft von Journalisten. Ich selbst bin gerade hochmotiviert, weil ich große Chancen sehe, die sich nicht in den Umfragen abbilden. Ich will meine Partei in Regierungsverantwortung führen. So wie wir das 2017 in Nordrhein-Westfalen geschafft haben, wäre es auch ein Ziel für den Bund.

Frage: Was muss in der EU-Ratspräsidentschaft, die nächste Woche beginnt, aus Ihrer Sicht Priorität haben?

Lindner: Es darf von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nicht in Erinnerung bleiben, dass es eine Präsidentschaft des Schuldenmachens war. Es muss eine Wirtschafts-Präsidentschaft sein, eine Präsidentschaft für Arbeitsplätze. Das Geld darf nicht versickern, wie wir es oft erlebt haben bei Rettungspaketen der Vergangenheit. Hilfen sollten deshalb an Reformzusagen gebunden sein und an einen Tilgungsplan für Schulden gebunden werden. Es wäre außerdem ein Segen, wenn Frau Merkel die Ratspräsidentschaft nutzen würde, den erfolgreichen CO2-Handel in Europa über den Bereich Energie hinaus auf alle Sektoren auszudehnen statt nur Bürokratismus zu schaffen. Dann hätten wir historisch wie international etwas erreicht.

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