Der Anker in der Mitte

Reflexionen des FDP-Ehrenvorsitzenden Dr. Hermann Otto Solms zur Rolle der FDP im Parteienspektrum aus Anlass ihres 75. Gründungsjubiläums.

Hermann Otto Solms
FDP-Ehrenvorsitzender Hermann Otto Solms © Laurence Chaperon

Einheit in Freiheit

Nachdem die Bildung einer gesamtdeutschen liberalen Partei misslungen war, kam es am 11. und 12. Dezember 1948 in Heppenheim zum Gründungsparteitag der westdeutschen Freien Demokratischen Partei unter dem Motto „Einheit in Freiheit“. Dem Vorsitzenden Theodor Heuss war es wichtig, die traditionelle Spaltung der Liberalen seit der Kaiserzeit und der Weimarer Republik in einen national-liberalen und einen liberal-demokratischen Flügel zu überwinden und den Zusammenhalt zu stärken. Diese beiden Grundlinien innerhalb der FDP blieben zwar in Form der wirtschafts- und sozialliberalen Flügel noch über Jahrzehnte hinweg bestehen, sind heute aber seit dem Neuaufbau ab 2013 überwunden. Die aus meiner Sicht prägenden Wendemarken liberaler Politik in den folgenden 75 Jahren veranschaulichen schlaglichtartig die Rolle der Freien Demokraten in einer sich kontinuierlich verändernden deutschen Parteienlandschaft.

Soziale Marktwirtschaft wird zur Wirtschaftsverfassung

In der Koalition mit Konrad Adenauers CDU hat die FDP im Einklang mit Ludwig Erhard dafür gesorgt, dass die Soziale Marktwirtschaft zur herrschenden Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik werden konnte. Gleichwohl gab es in gesellschafts- und außenpolitischen Fragen starke Differenzen zwischen den Koalitionspartnern. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass mit dem Ende der Nachkriegszeit eine Erneuerung auf nahezu allen Politikfeldern erforderlich war. Als Walter Scheel 1968 zum Parteivorsitzenden und der Sozialdemokrat Gustav Heinemann 1969 zum Bundespräsidenten gewählt worden waren, wurde klar, dass es mit der anschließenden Bundestagswahl in eine neue Richtung gehen würde.

Schon Anfang der sechziger Jahre hatte die FDP als erste Partei die Grundlagen für eine neue Ost- und Entspannungspolitik erarbeitet, die nun in der Koalition mit der SPD unter Bundeskanzler Willy Brandt verwirklicht werden konnte. Scheel hat die Zeichen der Zeit erkannt und trotz des Risikos, in Wahlen für den Kurswechsel abgestraft zu werden, für eine Aufbruchsstimmung gesorgt. Mit den „Freiburger Thesen“ erhielt diese Neuausrichtung eine geistige und gesellschaftspolitische Grundlage. In den vorgezogenen Neuwahlen 1972 wurde die sozial-liberale Reformpolitik durch die Wähler bestätigt.

Umdenken und Reformwille

Die gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Ölpreiskrisen 1973 und 1979 in Verbindung mit dem NATO-Nachrüstungsbeschluss als Antwort auf die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen durch die Sowjets machten jedoch ein sowohl wirtschafts- als auch verteidigungspolitisches Umdenken erforderlich. Dazu waren die Sozialdemokraten nicht bereit. Sie versagten ihrem eigenen Kanzler Helmut Schmidt die Unterstützung. Die FDP entschloss sich deshalb 1982 dazu, Helmut Kohl im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums zur Kanzlerschaft zu verhelfen – erneut ungeachtet der damit verbundenen Risiken bei Wahlen. Die notwendigen Arbeitsmarkt- und Finanzreformen, die zu Beginn der neuen Koalition auf den Weg gebracht wurden, haben Wirtschaft und Arbeitsmarkt bis Ende der achtziger Jahre wieder stabilisiert.

Durch die Nachrüstung und das Wettrüsten unter US-Präsident Ronald Reagan wurde die Staatswirtschaft der Sowjetunion in den Ruin getrieben. Diese beiden Entwicklungen haben letztlich die Tür zur deutschen Wiedervereinigung geöffnet. Es war eine glückliche Fügung, dass Kohl und Genscher in dieser historischen Phase die Zügel in der Hand hatten und mit Mut und Entschlossenheit das Momentum zu nutzen wussten. Gut 40 Jahre nach dem Scheitern im ersten Anlauf eröffnete sich nun auch die Möglichkeit, 1990 eine gesamtdeutsche liberale Partei aus der Taufe zu heben.

Realisation der Deutschen Einheit

Ich hatte in den neunziger Jahren als Fraktionsvorsitzender die anspruchsvolle Aufgabe, die Politik zur Realisierung der deutschen Einheit mitzugestalten. Das lief in der ersten gesamtdeutschen Legislaturperiode in großer Harmonie mit den Unionsparteien ab. Nach 1994 war die FDP erneut die treibende Kraft für die zu diesem Zeitpunkt notwendigen Reformen in der Sozial-, Gesundheits- und Steuerpolitik. Sie konnten allerdings wegen des zögerlichen Verhaltens der CDU nicht rechtzeitig auf den Weg gebracht werden, so dass es dem damaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine gelang, sie über den Bundesrat zu blockieren.

Das führte 1998 folgerichtig zur Abwahl der schwarz-gelben Koalition. Die FDP hat ihre neue Rolle ohne Zögern angenommen und sich aus der Opposition heraus weiterhin aktiv an den politischen Gestaltungsprozessen beteiligt. So konnten bis 2005 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder weite Teile der Reformvorhaben umgesetzt werden, die wir in der späten Ära Kohl bereits in Gesetzentwürfen eingebracht hatten.

Als Angela Merkel an die Macht kam, hat die FDP-Opposition insbesondere in der Steuer- und Finanzpolitik weitreichende Reformvorschläge erarbeitet. Das hat uns im öffentlichen Bewusstsein die Meinungsführerschaft auf diesem Gebiet eingebracht.

Prägnante Vorhaben und historisches Tief

Mit einleuchtenden Formeln wie „Mehr Netto vom Brutto“ und den steuerlichen Prinzipien „einfach, niedrig und gerecht“ haben wir bei der Bundestagswahl 2009 unter Parteichef Guido Westerwelle mit 14,6 Prozent das beste Ergebnis unserer Geschichte erzielt. Weil Merkel jedoch – leider gegen nur geringen Widerstand der FDP-Führung – eine Umsetzung unserer Vorschläge verhindert und überdies 2011 eine völlig verfehlte Energiewende eingeleitet hat, stürzte die regierende Koalition aus Union und FDP bei der Wahl 2013 in ein historisches Tief.
Die FDP flog erstmals in ihrer Geschichte aus dem Bundestag. Der Neuaufbau unter Christian Lindner wurde mit großer Energie vorangetrieben und hat zu einer nachhaltigen Konsolidierung beigetragen, die uns 2017 mit einem zweistelligen Ergebnis zurück in den Bundestag führte. Was ohne liberales Gegengewicht im Parlament geschehen kann, wurde 2015 an dem fundamentalen Fehler der Kanzlerin in der Migrationspolitik ersichtlich, an dem wir noch heute leiden.

FDP in der Regierung

Als 2017 in den Sondierungen mit Union und Grünen spürbar wurde, dass gerade die Unionsführung alle unsere Vorschläge blockieren wollte, haben wir die Gespräche abgebrochen: „Besser nicht regieren, als falsch regieren.“ Noch heute bin ich der Ansicht, dass dies die richtige Entscheidung war. 2021 haben wir in schwierigen aber erfolgversprechenden Verhandlungen eine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen gebildet.

Die CDU dagegen hatte ihre Erfolgschancen selbst zerstört. Der FDP gelingt es in zähen Verhandlungen, die Regierungspartner zu einem insgesamt vernünftigen Mittelweg zu bewegen und gleichzeitig eigene Erfolge wie steuerliche Entlastungen der Menschen und Betriebe, die Einleitung einer Asylwende durch eine neue Realpolitik in der Migration, Bürokratieabbau und die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren durchzusetzen. Dies alles vor dem Hintergrund völlig unerwarteter Entwicklungen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den neu entbrannten Nahostkonflikt. Auch an diesen jüngsten Entwicklungen zeigt sich die unverzichtbare Funktion der FDP im deutschen Parteienspektrum: Sie ist der Anker in der Mitte des Parteiensystems.

FDP erzwingt Orientierung aller Parteien zur Mitte

Neben der programmatischen Festlegung auf die Soziale Marktwirtschaft und die Verteidigung der Bürgerrechte hat die FDP eine Funktion, die von keiner anderen im Bundestag vertretenen Partei ausgefüllt wird: Allein durch ihre Existenz erzwingt sie, dass die demokratischen Parteien links und rechts von ihr nicht ins Extreme ausschlagen, sondern zur Mitte hin orientiert bleiben. Gäbe es dieses Bindeglied nicht, wären die Gefahren für die Demokratie nicht abzusehen. Walter Scheel hat schon 1972 vor dem Deutschen Bundestag herausgestellt: „Diese kleine und mutige, gescholtene und geschlagene, häufig für tot erklärte und immer wieder aufgestandene Freie Demokratische Partei hat mehr für das Wohl dieser Republik bewirkt als ihrer zahlenmäßigen Stärke zuzutrauen war.“