Antrag A3002: Streichung des § 362 Nr. 5 StPO

Antragsteller/ -in: Sachgebiet:
BV Rhein-Main A3 - Selbstbestimmt in allen Lebenslagen

Der Bundesparteitag möge beschließen:

Wir Freie Demokraten fordern die Streichung des in die Strafprozessordnung aufgenommenen Wiederaufnahmegrundes zu Ungunsten des Betroffenen gem. § 362 Nr. 5 StPO (Freispruch unter Vorbehalt).

    Begründung 

    Am 24.06.2021 beschloss der Bundestag die Ausweitung der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zu Ungunsten des Betroffenen durch den neu eingefügten Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO. Danach ist die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Betroffenen möglich, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gegen eine Person verurteilt wird.

    Dieser neu geschaffene Wiederaufnahmegrund ist abzulehnen, da er durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist.

    362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieser gewährt dem Beschuldigten eines Strafverfahrens als grundrechtgleiches Recht Vertrauensschutz. Art. 103 Abs. 3 GG ist Ausdruck dieser formalen Rechtsgarantie. Er erfasst vom Wortlaut zwar nur die Doppelbestrafung, schützt darüber hinaus aber auch den Freigesprochenen vor erneuter Strafverfolgung und Durchführung eines Strafverfahrens nach Rechtskraft. Dies folgt aus der grundgesetzlich anerkannten Freiheit und Würde des Menschen. Anders als die Wiederaufnahme zu Gunsten des Betroffenen in § 359 StPO dient die ungünstige Wiederaufnahme gem. § 362 StPO nicht dem Grundrechtschutz des Betroffenen und ist deshalb gesetzlich eng auszugestalten. Die bisherigen Wiederaufnahmegründe beruhen, mit Ausnahme des Sonderfalles des § 362 Nr. 4 StPO, sämtlich auf falschen Beweisen und betreffen verfassungsrechtlich unbedenklichen Grenzkorrekturen. Der neue Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO stellt sich aber nicht als Grenzkorrektur dar, sondern ist ein unzulässiger Eingriff in den Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG in Form des Verstoßes gegen den Vertrauensschutz. Anders als bei der Wiederaufnahme zu Gunsten des Betroffenen, bei der die materielle Wahrheit im Vordergrunde steht, ist bei der Ausgestaltung der ungünstigen Wiederaufnahme zu berücksichtigen, dass der Verfassungsgeber der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz des Freigesprochenen Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt hat. Die Person des Betroffenen und dessen Grundrechte sind über das staatliche Strafverfolgungsinteresse zu stellen. Dies beruht insbesondere darauf, dass die ungünstige Wiederaufnahme die individuelle Rechtssicherheit des Betroffenen tangiert, für den durch die Rechtskraft der freisprechenden Entscheidung Vertrauensschutz entstanden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass die Rechtssicherheit verfassungsrechtlich von so zentraler Bedeutung für den Rechtsstaat ist, dass ihretwegen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muss. Art. 103 Abs. 3 GG normiert nicht nur das Verbot erneuter Bestrafung, sondern auch das Verbot erneuter Strafverfolgung. Die Rechtssicherheit hat demgemäß Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit. Die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Betroffenen stellt sich als restriktiv zu handhabende Ausnahme der Durchbrechung der Rechtskraft dar. § 362 Nr. 5 StPO ist in dieser Hinsicht auf diese Systemfremdheit verfassungswidrig.

    362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG im Hinblick auf den Vertrauensschutz. Die Ausweitung der Wiederaufnahmemöglichkeit für bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren, deren Inhalt nichtverjährbare Straftaten sind, stellt angesichts der Rückwirkung von Rechtsfolgen eine Form der echten Rückwirkung dar. Diese ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Aufnahme besteht nur dann, wenn der Betroffene schon im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr auf den Fortbestand vertrauen durfte, da die Rechtslage unklar oder verworren war. Dies ist bei den vorliegenden Fallgestaltungen jedoch nicht gegeben. Die Rechtslage war zum Zeitpunkt der Entscheidung weder unklar noch verworren. Auch gibt es keine zwingende Gemeinwohlgründe, die dem Vertrauensschutz überwiegen und die es rechtfertigen, den vorliegenden Wiederaufnahmegrund auch auf bereits abgeschlossene Verfahren zu erstrecken. So ist es rechtsstaatsimmanent, dass nicht jeder Täter einer Bestrafung zugeführt werden kann. Dies ist im Interesse eines funktionierenden Rechtsstaats hinzunehmen.

    362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Danach muss eine Norm in ihren Voraussetzungen und in ihrer Rechtsfolge so formuliert sein, dass die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach ausrichten können. Das Wiederaufnahmerecht muss so gestaltet sein, dass es begrenzt und sachlich begründet sowie vorhersehbar, berechenbar und messbar ist. Dies kann im Hinblick auf die Gesetzesformulierung nicht angenommen werden. So sind die Voraussetzungen „dringende Gründe“ und „neue Beweismittel“ sehr unbestimmt und einer weiten Interpretation zugänglich. Dies ist im Hinblick auf das hohe Gut der Rechtssicherheit nicht hinnehmbar.

    362 Nr. 5 StPO verstößt durch die materielle Deliktsdifferenzierung gegen Art. 3 GG. Die vom Gesetzgeber in den Anwendungsbereich des § 362 Nr. 5 StPO aufgenommenen Delikte unterscheiden sich von anderen, schwersten Gewaltdelikten (Totschlag unter besonders schweren Umständen, § 212 Abs. 2 StPO, Menschenraub mit Todesfolge etc.) nur hinsichtlich der Möglichkeit der Verjährung. Im Übrigen bestrafen sie, ebenso wie die in § 362 Nr. 5 StPO aufgenommen Delikte, schwerstes Unrecht, so dass grundsätzlich bei der Differenzierung zwischen den beiden Deliktsgruppen von einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung auszugehen ist.

    Der unter der Großen Koalition geschaffene Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO ist deshalb aus dem Gesetz wieder zu streichen, da er eine ausufernde Wiederaufnahmemöglichkeit zu Ungunsten des Betroffenen nach bereits erfolgtem Freispruch statuiert und deshalb verfassungswidrig ist.