Selbstzensur ist Gift für die Demokratie
Immer mehr Menschen trauen sich nicht mehr, offen ihre Meinung zu sagen. In einem neuen Papier fordert FDP-Chef Christian Dürr deshalb eine „radikale Änderung im Umgang mit Meinungsfreiheit“. Denn eine liberale Gesellschaft lebt, so Dürr, „nicht vom Schweigen, sondern vom Widerspruch.“
Viele Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass man heute besser zweimal überlegt, bevor man seine Meinung sagt. Für die Freien Demokraten ist das ein Warnsignal. FDP-Chef Christian Dürr spricht in einem neuen Papier von einem „alarmierenden Signal für eine liberale Gesellschaft“. Wo Menschen Angst hätten, ihre Meinung zu sagen, „stirbt die Freiheit nicht durch ein Verbot, sondern durch Selbstzensur“. Diese Entwicklung, so Dürr, „ist Gift für eine liberale Gesellschaft, die nicht von Schweigen lebt, sondern von Widerspruch und offener Debatte“.
Damit die Freiheit wieder gestärkt wird, fordern die Freien Demokraten eine „radikale Änderung im Umgang mit Meinungsfreiheit“. In vier Punkten zeigt der FDP-Chef im Papier auf, was sich ändern muss.
Gleiche Regeln für alle: Abschaffung des § 188 StGB
Erstens kritisiert Dürr, dass der Staat mit immer neuen Gesetzen und Regelungen das Gefühl verstärke, Meinungsfreiheit stehe unter Vorbehalt. Besonders der Paragraph 188 im Strafgesetzbuch, der sogenannte Sonderstraftatbestand „Beleidigung von Personen des politischen Lebens“, müsse abgeschafft werden. Dieser Paragraf erlaubt es, Beleidigungen gegen Politiker mit bis zu drei Jahren Haft zu bestrafen. Für Dürr ist klar: „In einer liberalen Demokratie müssen alle Bürgerinnen und Bürger gleichbehandelt werden – es darf keine Sonderrechte für Politiker oder weitere Berufsgruppen geben.“ Wer Verantwortung trage und Entscheidungen für das Land treffe, müsse auch schärfere Kritik aushalten. „Das unterscheidet offene Gesellschaften von autoritären“, sagt er.
FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagt bei ntv, der Paragraf schaffe ein „Zweiklassenstrafrecht“. Es brauche keine Staatsmacht, um solche Vergehen zu verfolgen, so Kubicki. Früher sei dafür auch die Privatklage verwendet worden.
Maß und Mitte: Reform bei Hausdurchsuchungen
Zweitens fordert Dürr, Hausdurchsuchungen wegen Tweets oder Kolumnen künftig zu unterbinden. Der Fall des Publizisten Norbert Bolz zeige, wie überzogen staatliche Eingriffe inzwischen seien. „Hausdurchsuchungen dürfen nur noch beim Verdacht schwerwiegender Straftaten erfolgen“, heißt es im Papier. Polizei und Justiz sollten sich auf reale Gefahren wie Terrorismus oder Gewaltverbrechen konzentrieren – „und nicht den freien öffentlichen Diskurs kriminalisieren“. Hauptaufgabe des Staates sei schließlich die Freiheit aller zu schützen und nicht Meinungen zu regulieren.
Auf der Veranstaltung „Freiheit ist unteilbar“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Rahmen der Berlin Freedom Week want Kubicki am Mittwoch: „Wenn wir uns daran gewöhnen, das Recht zum Missbrauch zu nutzen, dann wird das Recht zur Willkür.“
Abschaffung staatlicher Meldestellen: Gegen eine Kultur der Denunziation
Drittens richtet sich die Kritik gegen staatlich geförderte Meldestellen „gegen Hass und Hetze“, wie sie etwa in Hessen existieren. Diese Portale, so die FDP, förderten eine Kultur der gegenseitigen Überwachung. Der FDP-Chef warnt: „Statt Zivilcourage und offener Diskussion entsteht ein Klima der Angst und des Misstrauens.“
In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt kritisiert Kubicki, dass beim Bundeskriminalamt inzwischen über 300 Mitarbeiter Hass und Hetze verfolgen. „Haben die nichts Besseres zu tun?“, fragt er. Ihn stört vor allem, dass man hier mit zweierlei Maß messe. „Ganze NGOs verfolgen Hass und Hetze – und das sind oft die, die auf Demonstrationen rufen: ‚Ganz Hamburg hasst die AfD‘ oder ‚Ganz Berlin hasst die CDU‘. Ist ihr Hass legitimiert, während der Hass der anderen vom Staat verfolgt werden muss? Mir macht dieser fast religiöse Furor Angst.“
Schutz der digitalen Privatsphäre: Stopp der Chatkontrolle
Viertens fordert Dürr im Papier ein klares Nein zur geplanten Chatkontrolle der EU-Kommission. Die Bundesregierung müsse sich in Brüssel dafür einsetzen, dass die Pläne von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen endgültig gestoppt werden. Der Vorschlag gefährde die digitale Privatsphäre von Millionen unbescholtener Bürgerinnen und Bürger. „Die Einführung von Technologien zur Chat- und Kommunikationsüberwachung wäre ein Dammbruch für die digitale Grundrechtearchitektur in Europa“, warnt er.
Am Ende geht es der FDP um ein zentrales Prinzip: Die Freiheit, die eigene Meinung zu äußern, darf nicht schleichend verloren gehen – weder durch Gesetze noch durch gesellschaftlichen Druck. Kubicki bringt es auf den Punkt: „Wenn die Menschen glauben, sie könnten wegen der Begrifflichkeiten, die sie wählen, ans Brett genagelt werden, sozial geächtet werden, dann verlieren wir ein Stück unserer demokratischen Grundwerte.“ Die Freien Demokraten wollen das nicht hinnehmen.
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