Richterwahl steht für politische Fahrlässigkeit

FDP-Chef Christian Dürr sieht in der missglückten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf ein Versagen der Fraktionsspitzen von Union und SPD. Schon früh hätten sie wissen müssen, dass die Kandidatin umstritten ist. Die Wahl einfach so nebenbei durchführen zu wollen, nennt er politisch fahrlässig.

Christian Dürr
Christian Dürr ist hinsichtlich der verfahrenen Richterwahl "erschüttert". © Christopher Altenhof

Die Wahl einer neuen Richterin für das Bundesverfassungsgericht sollte ein würdevoller, überparteilicher Akt im Bundestag sein. Stattdessen wurde der Prozess letzte Woche von politischer Blockade, Kommunikationspannen und Vertrauensverlust überschattet. 

Die von der SPD nominierte Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf stieß trotz anfänglicher Zustimmung von CDU und CSU letztlich auf Widerstand. Nachdem die Union ihre Unterstützung zurückzog, wurde die Wahl kurzfristig von der Tagesordnung genommen. FDP-Chef Christian Dürr zeigt sich im Interview mit der WELT „erschüttert“ über den Vorgang.

Diese Wahl ist ein „Desaster“

Er zieht einen Vergleich zu seiner Zeit im Bundestag. Damals seien sieben Verfassungsrichter „unfallfrei“ gewählt worden. Die aktuelle Situation nennt er ein „Desaster“. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, zeugt für ihn von mangelndem Verantwortungsbewusstsein gegenüber einem hochpolitischen Verfahren. 

Das Bundesverfassungsgericht ist eine der zentralen Institutionen der deutschen Demokratie. Es schützt Grundrechte wie Menschenwürde und Meinungsfreiheit und entscheidet über Parteiverbote. Die Wahl einer Verfassungsrichterin sei daher „kein normaler politischer Vorgang“, sagt Dürr und kritisiert den Versuch, sie „irgendwie nebenbei“ durchziehen zu wollen. Das zeuge von politischer Fahrlässigkeit.

Die Fraktionsspitzen von SPD und Union hätten frühzeitig klären müssen, ob es eine tragfähige Mehrheit für die vorgeschlagene Kandidatin gibt.

Verfassungsgericht braucht Neutralität

Der FDP-Chef geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. Er findet, Union und SPD sollten grundsätzlich über die Personalie Brosius-Gersdorf nachdenken. Für ihn zeigt die Debatte ein tieferliegendes Problem.

Das Bundesverfassungsgericht ist eine unabhängige Institution. Es soll frei von parteipolitischen Einflüssen über die Verfassung der Bundesrepublik wachen. Wenn Richterinnen oder Richter aber stark politisch geprägt sind, könne das die Unabhängigkeit gefährden. Gerade bei Frau Brosius-Gersdorf sieht Dürr diese Schwierigkeit. Sie vertrete „sehr politische Positionen“. Von einer Verfassungsrichterin erwarte er aber Entscheidungen, die nicht von der persönlichen Meinung abhängen, sondern allein auf dem Grundgesetz basieren.

Kubicki: Fachliche Kompetenz reicht nicht

FDP-Vize Wolfgang Kubicki teilt die Kritik von Christian Dürr. Die Personalie Brosius-Gersdorf sei von Anfang an unglücklich gewählt gewesen. Die Fraktionsspitzen hätten früh erkennen müssen, dass sie mit ihrer Haltung zu Artikel 1 des Grundgesetzes, dem Schutz der Menschenwürde, keine Mehrheit bekommen würde. Kubicki betont: „Wer die Menschenwürde für teilbar hält und damit die jetzige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts missachtet, wer vor einiger Zeit plädiert hat, Nicht-Geimpften ihre Grundrechte länger zu entziehen, der wäre für mich nicht akzeptabel.“

Nach Ansicht von Wolfgang Kubicki hätte die Kandidatin also von vornherein nicht zur Wahl vorgeschlagen werden dürfen. Im Nachhinein jedoch, kurz vor der Abstimmung, eine Schmutzkampagne zu starten, um sie zu verhindern, sei schlicht „beschämend“ und habe großen Schaden angerichtet. Sein Fazit: Spätestens seit dieser gescheiterten Wahl dürfe man an der politischen Kompetenz von Friedrich Merz und Jens Spahn zweifeln.